Unter dem Safranmond
gehöre er hierher, zu den Zigeunerinnen, als sei er vom gleichen Blut. Während des kurzen Augenblicks, den sie hier standen, hatte sich etwas an ihm verändert – als fühlte er sich plötzlich wohler in seiner Haut, im Reinen mit sich selbst, mehr sogar noch als in den Stunden, die er mit Maya verbrachte. Und nicht nur deshalb krampfte sich alles in ihr zusammen. Denn da war etwas zwischen Richard und Selina – eine Verbundenheit, die so dicht, so spürbar war, dass sie für Maya beinahe greifbar schien. Wie ein Geheimnis, das beide miteinander teilten und von dem Maya ausgeschlossen war. Sie war kurz davor, sich einfach umzudrehen und davonzulaufen, als Richard sie an den Schultern nahm und sanft nach vorne schob. »Würdest du meiner kleinen Freundin hier aus der Hand lesen?«
Maya fühlte Selinas eindringlichen Blick auf sich ruhen, und ihre Eifersucht mischte sich mit dem Stolz, dass Richard sie hierher mitgenommen hatte, sie mit diesen Worten vorgestellt hatte. Ebenso trotzig wie furchtlos erwiderte sie Selinas Blick. Diese legte den Kopf in den Nacken und begann schallend zu lachen. »Nun sieh dir das an, Dick: Am liebsten würde sie mir auf der Stelle die Augen auskratzen!« Immer noch lachend, setzte sie sich breitbeinig wieder auf den Baumstumpf und winkte Maya zu sich. »Komm schon her, Kleine.«
Auf einen Stupser Richards hin setzte sich Maya in Bewegung, einerseits widerwillig, andererseits voller Neugierde und Faszination. Die Zigeunerin streckte ihre Hände aus, und zögerlich legte Maya erst ihre eine, dann ihre andere Hand hinein. Gegen ihren Willen ließen die Wärme von Selinas Handflächen auf ihrer Haut und die Fingerkuppen, die sanft über ihren Handteller strichen, in Maya Zuneigung für die fremde Frau aufkeimen. Selina roch nach etwas Scharfem, Würzigem, das Maya nicht kannte, ihr aber keineswegs unangenehm war. An den ersten Falten unter ihren Augen sah Maya, dass sie nicht mehr ganz jung war.
Konzentriert wanderten Selinas Blicke über Mayas Handflächen, und das Mädchen bebte in der Erwartung dessen, was die Zigeunerin darin wohl finden würde – Gutes oder Schlechtes?
»Ich sehe hohe Mauern, die sich jedoch überwinden lassen. Einen weiten Himmel, der zur Last wird. Viel Sehnsucht und schwere Prüfungen auf deinem Lebensweg. Sei aber unbesorgt: Du wirst jede davon meistern, denn du hast vom Leben alles mitbekommen, was du brauchen wirst.« Sie stutzte, drehte Mayas Linke um ein paar Grad, dann schmunzelte sie. »Siehst du das hier?« Sie drückte Mayas Hand leicht zusammen und zeichnete mit der Fingerspitze drei zusammenhängende Linien nach, senkte ihre Stimme zu einem so leisen Flüstern, dass Maya sie kaum mehr verstehen konnte. »Siehst du das? Den Buchstaben R hier? Er wird dein Schicksal sein. Er wird dich an ferne Küsten führen und dir die große Liebe bringen.« Eindringlich sah sie Maya in die Augen. »Lass aber nie zu, dass dir einer das Herz bricht.« Mit einem kaum merklichen Rucken ihres Kopfes huschte ihr Blick zu Richard hinüber, und ein feines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Schon gar nicht einer wie der da.« Und eine Wärme schien in ihren Augen auf, als sie Maya erst über die Wange, dann über ihre Stirn strich, als wollte sie sie segnen. »Sei guten Mutes, was auch immer geschehen mag: Die Götter meinen es gut mit dir.« Tief durchatmend stand sie auf und winkte ab, als Richard ihr Geld zustecken wollte. »Lass, Dick! Für die Kleine habe ich das gerne gemacht.«
Auf dem Rückweg war es nun an Richard, Maya auszufragen, was ihr Selina aus der Hand gelesen hatte. Doch Maya hatte nur stumm und beharrlich den Kopf geschüttelt. Das Wissen darum gehörte ihr, ihr ganz allein. Und den ganzen Weg über, den restlichen Tag bis zum Schlafengehen hatte sie die linke Hand sachte geschlossen gehalten, als könnte ihr das, was Selina darin gesehen hatte, entgleiten.
»Du hörst mir ja gar nicht zu!« Entnervt und höchst unschicklich stampfte Angelina mit dem Fuß auf. Maya blinzelte ein paar Mal verwirrt, errötete, als sie bemerkte, dass sie ihre Linke zur Faust geballt hatte und an ihr Herz gepresst hielt. Verstohlen löste sie die Finger und schob die Hand schnell in die Falten ihrer Röcke.
»Entschuldige«, murmelte sie verlegen, »ich habe nur gerade – «
»Wo bist du bloß immer mit deinen Gedanken?« Angelina schüttelte verständnislos den Kopf, fuhr gleich darauf prüfend mit den Fingerspitzen über ihren Haaransatz, um sicherzugehen,
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