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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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hatte gerade die Treppe erreicht, als sich hinter ihr jemand betont energisch räusperte. Maya erstarrte. Mit hochgezogenen Schultern und zerknirschter Miene wandte sie sich langsam um.
    »Jonathan!« Mit einem Freudenschrei stürmte sie ihrem Bruder entgegen, der im Türrahmen zum Salon lehnte, frisch rasiert und gebadet, ein Bein in den langen grauen Hosen vor das andere gekreuzt, die Hände tief in den Taschen vergraben. Das verschmitzte Lächeln, das seine Mundwinkel nach oben zog, seine Grübchen vertiefte, ließ ihn keinen Tag älter aussehen als bei seinem Abschied vor über drei Jahren, und wesentlich jünger, als er tatsächlich war. In seinem graugrün changierenden Sakko und der schwarzen Weste darunter, die lindgrüne Krawatte in großzügigen Falten um den steifen Hemdkragen gebunden, wirkte er wie ein Schuljunge, der sich probehalber als Gentleman verkleidet hatte.
    Impulsiv breitete Maya die Arme aus, um ihm um den Hals zu fallen, und das Buch aus der Bibliothek polterte zu Boden. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, und rasch bückte sie sich, um es aufzuheben. Doch Jonathan war schneller. »Was liest mein Schwesterherz denn da Erbauliches?«
    »Gib her«, verlangte Maya in gereizterem Tonfall als beabsichtigt und schnappte nach dem Buch. Jonathan jedoch reckte sich zu seiner ganzen Größe und hielt den Band am ausgestreckten Arm in die Höhe, während Maya an ihm auf und ab hüpfte, sich dann mit ihrem gesamten Gewicht an seinen Arm hängte, halb lachend, halb zornig verlegen. »Gib her, das ist meins!« Jonathan schlang seinen anderen Arm um ihre Taille, drückte seine zappelnde Schwester an sich, um sie so einigermaßen zu bändigen. In gespielter Strenge zog er seine Augenbrauen zusammen und fuhr mit dem Daumen unter die Kante des Buchdeckels, um ihn aufzuklappen. Leise pfiff er durch die Zähne, als er auf der Titelseite den Stempel erblickte, der das Buch als Eigentum der Bodleian Library, Oxford auswies. »Kaum weilt der große Bruder mal eine Zeit in der Ferne, fällt die kleine Schwester dem Verbrechen anheim. Wird zu einer Diebin und lügt auch noch obendrein.« Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte betroffen den Kopf.
    »Ich bringe es ja zurück«, hielt Maya trotzig dagegen, klang dabei aber recht kleinlaut und konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf ihr Gesicht stahl. Als Jonathan leise gluckste, boxte sie ihn spielerisch zwischen die Rippen. »Wirst du wohl endlich aufhören, mich immer so zu ärgern!«
    Jonathan stöhnte auf und krümmte sich unter nicht vorhandenen Schmerzen. »Da plagt man sich jahrelang im Dienst für das Vaterland, fern der Heimat und seiner Lieben, und was ist der Dank? Statt einer freundlichen Begrüßung erntet man nur Prügel!«
    Ein Lachen kitzelte hinter Mayas Brustbein, sprudelte unaufhaltsam empor, und endlich lachte sie so befreit, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte. Mit aller Kraft umschlang sie Jonathan. »Ich bin so froh, dass du wieder hier bist«, murmelte sie glücklich in den Stoff seines Sakkos, das schwach nach seinem Rasierwasser roch. Jonathan erwiderte ihre Umarmung nicht weniger fest.
    »Ich bin auch froh, wieder hier zu sein«, flüsterte er in ihr Haar, das sich schneefeucht in alle Richtungen kringelte. »Und dank guter Winde und einer emsigen Dampfmaschine«, verkündete er und hob Maya in seinen gekreuzten Armen schwungvoll vom Boden an, dass ihr ein freudiger Jauchzer entfuhr, »sogar gleich zwei Tage früher als geplant!« Sachte setzte er sie wieder ab und hielt ihr das Buch vor die Nase. »Hier. Bring dein Diebesgut mal lieber schnell in Sicherheit, ehe Mutter dich damit erwischt.«
    Maya kaute angestrengt auf ihrer Unterlippe, als sie das Buch in ihren Händen betrachtete. »Ist sie noch sehr böse? Wir hatten heute Nachmittag nämlich –   «
    Seine Mundwinkel kräuselten sich. »Hab schon gehört. War so ziemlich das Erste, was unser Goldköpfchen mir zu erzählen wusste.«
    »Immer muss Lina gleich alles petzen«, fauchte Maya.
    »Ach komm«, versöhnlich strich Jonathan ihr über den Arm, »du weißt doch, wie sie ist! Angelina ist erst glücklich, wenn sie etwas auszuplaudern oder zu schnattern hat. Früher oder später hätte ich es ja doch erfahren. Aber mach dir keine Gedanken: Mutter ist fürs Erste aus dem Häuschen vor Freude, dass ich zurück bin, und geht ganz darin auf, alles noch auf die Schnelle herzurichten. Mit meiner verfrühten Ankunft habe ich unbeabsichtigt dafür gesorgt, dass sie

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