Unter dem Safranmond
euren Streit fürs Erste vergessen hat. Und«, er beugte sich dicht zu ihr, »ich werde versuchen, sie zu überreden, dass du die Briefe behalten kannst.« Er zwinkerte ihr zu und versetzte ihr einen liebevollen Stoß. »Mach, dass du hinaufkommst – in gut zwei Stunden gibt’s Essen.«
Maya zögerte. An der Art, wie sie das Buch hielt und über den Einband strich, erriet er ihre Gedanken, und er lachte. »Geh ruhig! Ich habe durchaus vor, erst mal eine Weile wieder hier in Oxford zu bleiben.« Mit ruppiger Zärtlichkeit kniff er sie in die Wange. »Du musst nicht jede Stunde mit mir verbringen. Ich weiß doch, wie viel dir an deinen Büchern liegt. Wir werden noch mehr als genug Zeit füreinander haben.«
»Danke«, flüsterte Maya mit einem Leuchten in den Augen und hauchte ihm einen schnellen Kuss zu, ehe sie leichten Herzens die Treppen hinauflief.
Erst als sie außer Sichtweite war, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, seinen Besucher zu erwähnen. Leichthin zuckte er mit den Achseln ob seines Versäumnisses und sagte sich, dass Maya Ralph ohnehin später beim Dinner kennenlernen würde. Gemütlich schlenderte er in den Salon zurück, um dort auf seinen Freund zu warten.
»Ich bin unsterblich verliebt!« Unter herzzerreißendem Seufzen ließ sich Angelina kurze Zeit später rücklings gegen die Innenseite der Tür fallen.
»Wie schön. Wer ist es diese Woche?« Maya hatte es längst aufgegeben, sich darüber zu empören, dass Angelina, ohne anzuklopfen, kam und ging, wie es ihr gerade passte, ganz so, als sei dies noch immer genauso gut ihr eigenes Zimmer wie das Mayas.
»Deinen spöttischen Tonfall kannst du dir ruhig sparen – dieses Mal ist es wirklich ernst!«
»Mhm«, machte Maya, tunkte die Feder in das Tintenfass und schrieb die beiden Worte, die sie gerade mühsam aus dem Arabischen entziffert und ins Englische übertragen hatte, auf einem Papierbogen nieder. Sie schielte auf die kleine silberne Uhr, die im Lampenschein vor ihr auf dem Sekretär stand. Ein wenig Zeit blieb ihr noch, um vor dem Dinner einige Verse zu übersetzen. »Und wie heißt der Glückliche?«
»Ralph«, gab Angelina gedehnt und salbungsvoll kund. »Ralph Garrett.« Ein erneutes Seufzen folgte, als sie sich von der Tür abstieß und auf Mayas Bett zutänzelte. In altbekannter Manier wollte sie sich mit einer theatralischen Geste der Länge nach darauf werfen. Doch aus Sorge, ihr Kleid aus blassblauem Seidentaft könnte dabei zerknittern, besann sie sich eines Besseren und wanderte stattdessen hinter Mayas Rücken um den Sekretär herum ans Fenster, wo sie sich dekorativ postierte.
»Wer?« Mayas Frage kam automatisch, während sie sich über der nächsten Zeile, die für sie so gar keinen Sinn machte, das Hirn zermarterte. Arabisch schien ihr wie ein Labyrinth aus Irrwegen und doppelten Bedeutungen. Jedes Wort war wie ein Talisman, der die Geister der gesamten Wortfamilie heraufbeschwor, aus der es sich ableitete. Mehr eine symbolische Geste denn eine klare Aussage. Immer nur ein winziges Sichtfenster, einen Blick auf den tiefen dunklen Wald an Mehrdeutigkeit erlaubend, der sich hinter den geschriebenen Zeilen öffnete.
»Ralph Garrett«, wiederholte Angelina bemüht langsam und mit überdeutlicher Betonung, als sei ihre Schwester schwerhörig oder begriffsstutzig. »Jojos Freund! Er hat ihn auf der Überfahrt kennengelernt und ihn eingeladen, über Nacht zu bleiben, weil heute kein Zug mehr nach Gloucestershire weiterfährt. Die beiden haben fürchterlich ausgesehen, als sie vor der Tür standen, und gerochen haben sie – puh, als hätten sie den gesamten Dreck Indiens an ihren Sachen kleben gehabt!«
»Hm.« Maya knabberte an ihrem Daumennagel herum und runzelte in angespannter Konzentration die Stirn.
»Aber dann habe ich«, Angelina unterbrach sich mit einem Kichern, das sich zu einem schluckaufähnlichen Staccato steigerte, ehe sie weitersprach, »dann habe ich Ralph gesehen, wie er gerade aus dem Badezimmer kam. Just in dem Moment, in dem ich hinaufgegangen bin, um mich zum Dinner umzuziehen.« Atemlos senkte sie ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Er trug nur Hosen und ein Handtuch über der Schulter! Mehr nicht!« Sie sah Maya erwartungsvoll an. Deren Miene hellte sich schlagartig auf, als sie die Abfolge der Schnörkel erkannte, ihre Bedeutung begriff, und schwungvoll glitt ihre Feder über das Papier. Enttäuscht darüber, dass ihre Schwester so wenig Anteilnahme an ihrer skandalösen
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