Unter dem Teebaum
medizinischen Eid gebrochen und gelogen. Nein, es war nicht so, dass Amber keine Kinder mehr bekommen konnte. Ralph wollte einfach verhindern, dass Steve mit Amber schlief. Die Eifersucht hatte ihm die Worte in den Mund gelegt.
Seither, seit nunmehr zwölf Jahren, hatte es keine Frau mehr in seinem Leben gegeben. Hin und wieder hatte er jemanden kennengelernt, doch es war ihm nicht gelungen, für eine andere Frau mehr als nur Sympathie zu empfinden. Er wusste, dass Amber unglücklich war, und er hatte sich schon so oft gefragt, warum sie die Tyrannei des lieblosen Ehemannes nicht einfach durch eine Scheidung beendete.
Jonah fiel ihm ein, der Junge und sein Leid. Er verstand Amber nicht. Schon lange hatte er bemerkt, dass in dem Jungen etwas ganz Besonderes steckte. Etwas zwar, das er nicht benennen konnte, doch es war da. In den letzten Tagen und Wochen hatte er eine leise Ahnung von dem Besonderen in Jonah bekommen. Er hatte selten einen Menschen erlebt, der sich so gut in andere hineinversetzen konnte. Das Einfühlungsvermögen des Jungen war über die Maßen ausgeprägt. Und noch etwas unterschied ihn von seinen Altersgenossen: Während diese Jagd auf die kleinen Tiere machten, Pflanzen und Tiere quälten und sich einen Spaß daraus machten, die Mädchen zu ärgern, zeichnete sich Jonah durch seine sanfte Liebe zu den Menschen und Tieren aus. Er würde ein sehr guter Arzt werden, dessen war Ralph Lorenz sicher. Aber das war nur möglich, wenn Amber dafür sorgte, dass er auf ein Internat kam. Hier, auf dem Gut, würde er früher oder später von seinem Stiefvater zerbrochen werden.
Er seufzte, nahm ein kleines Steinchen auf und warf es in den Weinberg.
»Jonah ist ein prachtvoller Junge«, sagte er schließlich, obwohl er das Schweigen genoss, aber befürchtete, Amber könnte ihn für einen Langweiler halten.
»Ja, das ist er. Ich habe zu wenig auf ihn achtgegeben.«
Plötzlich warf sie den Kopf herum, und Ralph sah mit Erstaunen, dass Tränen aus ihren Augen stürzten.
»Oh, Ralph, ich habe so viel falsch gemacht«, schluchzte sie. Ihre Schultern bebten, und ihre großen Augen blickten so verzweifelt, dass er nicht anders konnte und Amber an seine Brust zog. Er hielt sie fest, ganz fest, und strich ihr sanft über den Rücken. Er spürte jeden einzelnen Schluchzer, spürte, wie sie vom Weinen geschüttelt wurde. Er sprach kein Wort, sondern hielt sie einfach nur fest und streichelte sie.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Sie richtete sich auf und wischte mit den Fäusten die Tränen von den Wangen. Die Geste erinnerte ihn an ein kleines, trotziges Mädchen.
»Du hast nichts falsch gemacht, Amber. Du kannst dir nicht für alles die Schuld geben. Steve hat etwas gegen Jonah. Er ist nicht sein Vater. Kann sein, dass Eifersucht eine Rolle spielt.«
»Eifersucht kann es nur dort geben, wo es Liebe gibt«, erwiderte Amber traurig. »In diesem Haus aber ist die Liebe ein sehr seltener Gast.«
Ihre Stimme klang klein und blass. Sie wirkte zart und verloren, sodass Ralph nicht länger an sich halten konnte: »Ich liebe dich, Amber. Du weißt es längst. Ich liebe dich seit Jahren.«
Er schlang seine Arme um sie, zog sie an sich, und dann sah er ihr in die Augen. Er las Verwunderung darin, doch keinerlei Abwehr. Langsam beugte er sich über sie und streifte mit seinem Mund ihre kalten Lippen. Es war ein Kuss, so zart wie die Berührung eines Schmetterlingsflügels. Als Ralph sah, dass Amber die Augen schloss, küsste er sie noch einmal. Er genoss die Wärme ihrer Haut, den Duft ihres Haares, er schmeckte ihren Atem. Bereitwillig ließ sie alles geschehen.
Als sie sich endlich voneinander lösen konnten, nahm der Arzt Ambers Gesicht in beide Hände und bedeckte jeden Zentimeter davon mit kleinen, leichten Küssen. Als Amber lachte, wurde er mutiger. Er löste die Spange aus ihrem Haar, ließ es durch seine Finger rinnen, vergrub das Gesicht darin.
»Amber, ich liebe dich so sehr.«
Amber antwortete nicht. Der Kuss hatte sie überrascht, aber mehr noch die Heftigkeit, mit der sie ihn erwidert hatte. Sie konnte noch immer seine Hände auf ihrer Haut spüren. Liebe ich Ralph Lorenz?, fragte sie sich verwundert. Er war ihr so vertraut geworden, war ihr Freund, den sie vermisste, wenn er einmal zwei Tage nicht auf das Gut kam. Sie hatte ihm einiges von sich erzählt, hatte mit ihm gelacht, ihn an ihren Sorgen teilhaben lassen. Sie wusste nicht, ob sie ihn liebte. Sie wusste nur, dass
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