Unter dem Teebaum
ihr Kopf klarer, ihr klopfendes Herz beruhigte sich. Sie rollte sich auf den Rücken und blickte in die Sterne. Ich kann so nicht weiterleben, dachte sie. Ganz zaghaft schlich sich ein dunkler Gedanke in ihr Hirn: Wenn Vater endlich sterben würde, dann könnte ich Steve wegschicken, könnte mich scheiden lassen und endlich ein Leben beginnen, wie ich es mir wünsche.
Amber erschrak über diesen Gedanken und schüttelte sich. Nein, sie wollte nicht, dass ihr Vater starb. Auch wenn dann alles leichter wäre. Sie verdrängte den Gedanken, fühlte sich nun auch ihrem Vater gegenüber schlecht und ungerecht, doch ganz tief in ihrem Inneren keimte so etwas wie Hoffnung. Vater soll leben, dachte sie. Er soll leben und glücklich sein. Aber eines Tages wird er sterben. Das ist der Lauf der Dinge. Und dann ist die Zeit meines Leides vorbei. Dann beginne ich zu leben.
Es verwunderte sie ein wenig, dass der Tod des Mannes, der ihr das Leben geschenkt hatte, der Beginn ihres »richtigen« Lebens war. Aber es war, wie es war, und Amber konnte nicht viel daran ändern. Wenigstens gab es jetzt etwas, das Hoffnung versprach. Die Zeit ihrer Ehe mit Steve war begrenzt. Sie würde sich scheiden lassen, sobald Walter unter der Erde war. Dann konnte er ihr nicht mehr drohen, ihr das Leben nicht mehr zur Hölle machen. Und wer weiß, vielleicht gab es sogar noch eine neue Liebe für sie.
Sie dachte an Jonah, ihren toten Liebsten. Ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass die Sterne dort oben die Seelen der Verstorbenen waren. »Jonah«, flüsterte sie. »Bist du dort oben? Jonah, was soll ich nur tun? Ich habe schlecht für unseren Sohn gesorgt, verzeih mir. Doch ich verspreche dir, dass ich mich von ihm trennen und ihn in ein Internat geben werde, wenn er es sich wünscht. Ich habe kein Recht, ihn an einem Ort zu behalten, an dem er leidet.«
Die Sterne antworteten nicht, doch plötzlich flog ein Damala, ein Keilschwanzadler, tief über die Weinberge hinweg.
Amber richtete sich auf und sah ihm nach. Der Vogel ließ sich auf Jonahs Teebaum nieder, und im gleichen Moment sah sie Ralph Lorenz, der die Weinberge absuchte und dabei ihren Namen rief.
Leise, fast unhörbar antwortete sie: »Hier! Hier bin ich.« Die Worte waren kaum zu verstehen, doch Ralph Lorenz blieb stehen, sah in ihre Richtung und kam herbeigerannt.
Er fiel neben ihr auf die Knie: »Ist alles in Ordnung mit dir, Amber? Geht es dir gut? Hast du Schmerzen?«
»Es ist alles in Ordnung, Ralph. Mir fehlt nichts. Und jetzt, da du da bist, geht es mir auch gut.«
Er sah ihr sorgsam in die Augen, fühlte sogar ihren Puls. Sein Gesicht drückte Besorgnis aus. Erst als er an Amber nichts Auffälliges feststellen konnte, atmete er tief ein und aus und versuchte ein schüchternes Lächeln: »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
Amber zog die Knie an und schlang die Arme darum. Ralph lächelte, als er das sah, denn auch Jonah hatte er oft so dasitzen sehen.
Er setzte sich neben sie. Kurz überkam ihn das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen oder über ihr Haar zu streichen. Er hob die Hand, doch Ambers Blick verlor sich in der Dunkelheit der Nacht. Sie wirkte so abwesend, dass er die Hand sinken ließ und sie von der Seite betrachtete. Noch nie war sie ihm so verletzlich erschienen wie in diesem Augenblick. Ihr Gesicht war schmal geworden in den letzten Jahren, und um die Augen zeigten sich die ersten Fältchen. Noch immer trug sie ihr Haar lang. Es fiel in glänzenden Strähnen den Rücken hinunter, wurde nur im Nacken lose von einer Spange gehalten, und der Arzt sah, dass sich erste graue Haare zeigten.
Er seufzte. Die Zeit verging, sie wurden älter, doch noch immer war Ralph Lorenz nicht am Ziel seiner Wünsche.
Es hatte lange gedauert, bis er sich eingestanden hatte, dass er Amber liebte. Ja, er liebte sie, wie er noch nie eine Frau geliebt hatte. Wenn er sie ansah, wenn er ihre Stimme hörte, dann war ihm, als hätte er vor ihr noch nie eine Frau geliebt.
Am Tag von Emilias Geburt war die Liebe über ihn gekommen wie eine Meereswoge. Er hatte das Kind gesehen und hatte sich vorgestellt, es wäre das Kind von Amber und ihm.
Er erinnerte sich noch genau an diesen Tag, an dem Steve schweigend am Fenster gestanden und er seine Instrumente wieder und wieder gesäubert hatte, weil er nicht wusste, wohin mit seinen Gefühlen. Die Erkenntnis im Geburtszimmer hatte ihn kopflos und zugleich berechnend gemacht. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Ralph Lorenz den
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