Unter dem Weltenbaum - 01
hinter sich gebracht hatten, waren sie alle außer Atem, und keiner verspürte mehr Lust zu einer Unterhaltung. Lange Stunden hörte man von den dreien nicht mehr als das Knirschen von Steinen unter den Stiefeln. Als die Sonne dann hoch am Himmel stand, schlug Jack eine Rast vor. Yr und Faraday lehnten sich dankbar an eine Felswand und streckten die Beine aus. Das Mädchen fragte sich, ob alle Wunder Tencendors entweder tief unter der Erde oder hoch oben auf einem Berg lagen.
»Alle anderen wurden von der Kirche zerstört«, keuchte die Katzenfrau. »Nur die ganz oben oder ganz unten haben überlebt.«
Die Edle schloß erschöpft die Augen. Sie würde sich wohl nie an die erschreckende Fähigkeit der Wächter gewöhnen, die Gedanken anderer zu lesen. Die Katzenfrau tätschelte gutmütig Faradays Hand. »Das können wir nicht überall und immerzu«, murmelte sie. »Außerdem bemühen wir uns natürlich, höflich zu sein.«
»Ach, Yr. Welche Gedanken habt Ihr eigentlich bei Euren Wanderungen durch Priams Palast aufgeschnappt?«
Die Katzenfrau lächelte leicht. »Nicht immer die angenehmsten, mein Liebes, manchmal sogar richtig widerwärtige.« Sie dachte an all das Bestürzende, aber auch Überraschende, das ihr dabei ans Ohr gedrungen war. Und ganz zu schweigen davon, was sie bei ihren regelmäßigen Besuchen im Turm des Seneschalls in Erfahrung gebracht hatte. Der Mutter sei Dank, daß Axis sich zur Zeit weit weg vom Sitz der Kirche aufhielt. Vielleicht, und mit ein bißchen Glück, würde die Reise in den Norden ihm ja die Augen über die Lügen öffnen, die sein bisheriges Leben bestimmt hatten. Je eher Axis sich von dieser Täuschung befreite, desto eher würde er seine eigene Wahrheit erkennen.
Jack hatte sich abseits niedergelassen und beobachtete die Frauen. Wie erleichtert fühlte er sich, daß es gelungen war, Timozel unten in der Schlucht zurückzulassen! Als die Wächter untereinander besprochen hatten, wie sie Faraday heimlich zu Bornheld bringen könnten, waren sie davon ausgegangen, das Mädchen unterwegs so gründlich wie möglich auf seine neue Rolle vorzubereiten, bis diese Pläne durch die Ereignisse über den Haufen geworfen worden waren. Timozel hatte sie schon durch seine bloße Anwesenheit an ihrem Vorhaben gehindert. Noch immer waren sie kaum einen Schritt weitergekommen, Faraday den Weg zu erläutern, den die Prophezeiung für sie bestimmt hatte.
Der Schweinehirt reichte den Frauen Speckscheiben, knusprige Korinthenplätzchen und getrocknete Sommeräpfel. Mochte der Jüngling sich als Plage erwiesen haben, die Bauersfrau hatte ihre Sache besser gemacht, als Jack hatte hoffen dürfen. »Yr«, sagte er zwischen zwei Bissen, »erzähl Faraday doch etwas über die Heiligen Seen, während wir hier essen.«
»Heilige Seen?« Das Mädchen riß die Augen weit auf. »Gehört der Farnbruchsee dazu?«
»Ja, mein liebes Kind.« Die Katzenfrau knabberte an den Resten eines Apfels. »Davon gibt es vier. Der Farnbruch oder die Mutter ist einer davon. Kennt Ihr vielleicht noch andere?«
Faraday leckte sich die Finger ab. Dieser Schinken war köstlich. Ob die Bauersleute ihn wohl über Torf- oder über Holzfeuer geräuchert hatten? Vielleicht verwendeten die Renkins dazu ja getrockneten Schweinedung. Sie dachte sehr intensiv daran und schuf in Gedanken sogar ein genaueres Bild davon.
Jack würgte plötzlich und spuckte das Stück Schinken aus, das er gerade gekaut hatte. Das Mädchen ließ das Bild verblassen, lachte hell auf und klatschte wie ein Kind in die Hände. Die beiden Wächter sahen sich an. Faraday hatte sie gefoppt. »Das war wohl nicht sehr höflich«, lachte sie.
Yrs Mundwinkel zuckten, aber sie verkniff sich ein Lächeln. »Zurück zu den Seen, meine Tochter. Denkt scharf nach, ob Euch noch ein anderer einfällt.«
Faraday überlegte. »Nun, vielleicht der Kesselsee im Wald der Schweigenden Frau. Der gehört sicher dazu. Timozel berichtete mir, wie unheimlich er war.«
Die Katzenfrau nickte zufrieden. »Aber es gibt einen See, den Ihr noch besser kennt.«
Das Mädchen runzelte die Stirn. »Wo findet man denn noch weitere merkwürdige Seen? Ich kenne sonst keine größeren Gewässer in Achar, bis auf … Nein, unmöglich. Der bestimmt nicht!«
»Ich glaube, sie ist drauf gekommen«, zwinkerte Jack Yr zu.
»Doch nicht etwa der Gralsee?« keuchte Faraday.
»Genau der, mein liebes Mädchen. Aber der Gralsee hat seine Zauberkraft im Verlauf der Jahrhunderte tief versenkt. Von allen
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