Unter dem Weltenbaum - 01
habe ich den Jüngling ein wenig aus dem gewohnten Zeitfluß hinausbefördert. Gewöhnlich würde er jetzt noch drei Stunden schlafen, aber dank meiner Behandlung werden daraus drei Tage, wenn nicht noch mehr. Und wenn Timozel aufwacht, wird er glauben, nur wenige Stunden geschlafen zu haben.«
»Aber wird ihm denn auch nichts geschehen? Ich meine … wenn es regnet oder schneit? Wie kann Timozel sich da warmhalten?«
Die Katzenfrau streichelte ihr über die Wange. »Auf jetzt, mein liebes Kind! Wir befinden uns bereits im Schutzgebiet des Farnbruchsees. Er weiß, daß wir kommen, und er weiß auch, daß der junge Mann, die Schweine und sogar das Maultier einer gewissen Fürsorge bedürfen. Die Mutter wird sich bis zu unserer Rückkehr um alle kümmern. Timozel wird es warm und gemütlich haben, und die Schweine bleiben in seiner Nähe. Das schlechte Wetter wird an dieser Schlucht vorbeiziehen.«
»Die Mutter?« Was meinte Yr damit? Ein See war doch kein Lebewesen und erst recht keine Mutter!
Der Hirte trat zu den beiden und reichte ihnen die Umhänge. Ob geschützt oder nicht, hier war es reichlich kalt.
»Kommt, die Mutter wartet schon.«
Faradays Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. »Wer soll das denn sein?«
Jack lächelte sie mit freundlichen Augen an. »Faraday, wißt Ihr noch, wieviel Angst Ihr hattet, bevor Ihr die Euch unbekannte Kammer des Sternentors betreten habt?«
Das Mädchen nickte.
»Und wie es Euch erging, als Ihr in das Tor selbst schautet?«
Wieder nickte sie, diesmal lebhafter. Diesen Anblick würde sie bis ans Ende ihrer Tage nicht vergessen.
»Mein Kind, beim Sternentor handelt es sich um einen der mächtigsten und zauberischsten Orte in ganz Tencendor. Ähnlich verhält es sich mit dem Farnbruchsee oder der Mutter, wie man den See in früheren Zeiten nannte. Ihr seid in ein Abenteuer geraten, nach dem es Euch nicht drängte, das ist uns durchaus bewußt. Aber bedenkt auch dies, meine Tochter: Ihr werdet dabei Zeugin von Wundern, wie sie von Eurem Volk seit tausend Jahren niemand mehr geschaut hat.«
Das brachte Faraday tatsächlich zum Nachdenken, und die Sorgenfalten in ihrem Gesicht glätteten sich. Ja, richtig, sie hatte das Sternentor gesehen, und selbst wenn sie nie wieder an jenen Ort gelangen sollte, reichte ihr doch die Erkenntnis, daß es dieses Wunder wirklich gab, daß es keiner Phantasie entsprungen war.
»Ach, Yr, ich weiß so wenig. Erzählt Ihr mir unterwegs etwas von Tencendor?«
Die Katzenfrau nahm eine Hand des Mädchens zwischen die ihren. »Aber gern, liebste Freundin. Heute bekommen wir einen Teil Tencendors zu sehen, den es immer noch gibt, der noch so ist wie früher … bevor der Seneschall dieses wunderbare Land vernichtete.«
»Nun auf!« drängte der Schweinehirt. »Wir haben einen anstrengenden Weg vor uns.«
Die Frauen schulterten die kleinen Säcke, die Jack für sie gepackt hatte. Faraday blieb noch einen Moment bei Timozel stehen und strich ihm über die Wange. »Schlaft gut. Ich komme bestimmt zu Euch zurück.«
Der Wächter überprüfte ein letztes Mal, ob mit dem Lager alles in Ordnung war, schwang sich eine größere Tasche über den Rücken und winkte zum Aufbruch. Yr führte das Mädchen zum Ende der Schweineschlucht, wo ein schmaler Pfad in die Berge hinaufführte. Als die beiden sich umdrehten, beugte sich Jack gerade über den Jüngling und legte ihm die Hand aufs Gesicht. Grünes Licht strömte aus seinen Fingerspitzen. Kurz darauf richtete der Wächter sich mit verwirrter Miene auf. Er fuhr sich nachdenklich durchs Haar. Veremund hatte ihm doch genau erklärt, was er herausgefunden hatte, als er den Jüngling in der Burg im Wald der Schweigenden Frau prüfte. Ein gutes Herz, das sich aber unglücklich fühle. Und eine Zukunft, die ihm einige schwierige Entscheidungen abverlangen werde. Das alles hatte Jack jetzt auch gespürt, aber dazu den Hauch von etwas Fremdem, das er sich nicht erklären konnte. Von etwas Sonderbarem, das ihm ziemlich große Sorge bereitete. Rasch schritt er hinter den Frauen her. Wieder wünschte der Wächter, er wäre mit Faraday und Timozel auf einen anderen Grabhügel gestoßen. Auf jeden anderen, bloß nicht auf den des neunten Zaubererkönigs. Aber die Weissagung mußte erfüllt werden. Gemäß den Worten, die der Prophet niedergeschrieben hatte.
Sie stiegen immer höher, bis die Sonne sich über die Gipfel schob, die über ihnen aufragten. Sobald die Reisenden ein Stück auf dem Bergpfad
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