Unter dem Wolfsmond – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Alex-McKnight-Serie (German Edition)
Hütte zurück. Komisch, daß man so denkt – sie verbringt eine Nacht dort, und schon ist es ihre Hütte. Ich klopfte an die Tür. Keine Antwort.
»Dorothy«, rief ich. »Sind Sie wach?«
Ich griff an den Türknopf. Er war nicht verriegelt. Ich öffnete die Tür und trat ein.
Der Tisch war umgestürzt. Ein Tischbein war abgebrochen. Die Stühle lagen wirr im Raum verstreut.
Sonst nichts.
Sie war verschwunden.
Kapitel 5
Ich fuhr zu meiner eigenen Hütte zurück und rief das Büro des Sheriffs an. Nachdem ich aufgelegt hatte, stand ich da und starrte auf das Telefonbuch. Es war noch auf der ersten Seite aufgeschlagen. Direkt unter Polizei und Feuerwehr und Krankenwagen stand die Nummer des Personenschutzdienstes. In Detroit war ich öfter Zeuge geworden, wie diese Dienste arbeiten. Sie kommen, holen einen und bringen ihn irgendwo sicher unter. Hätte ich letzte Nacht diese Nummer gewählt, sagte ich mir, wäre sie jetzt in Sicherheit.
Ich ging wieder nach draußen, wo der Wind mir Schneeflokken ins Gesicht blies. Die Sonne war durchgekommen, eines dieser kurzen Zwischenspiele, wenn die Wolken aufreißen und das Licht so gleißend vom Schnee reflektiert wird, daß einem die Augen vom bloßen Anblick schmerzen.
Ich stand zwanzig Minuten da und ging alles wieder und wieder in meinem Kopf durch. Sie war so verängstigt gewesen. Ich hätte direkt etwas tun müssen, auf der Stelle, statt auf den nächsten Tag zu warten. War ich faul gewesen oder bloß dumm? Ich wollte zu ihrer Hütte zurückgehen, anfangen, nach etwas zu suchen, irgend etwas, was mir verraten könnte, was passiert war. Ich wollte irgend etwas tun. Ich fühlte mich so nutzlos, wie ich da rumstand. Aber ich zwang mich zu warten. Bring nichts durcheinander, dachte ich. Es konnte ja Spuren geben oder Fußabdrücke oder Gott weiß welche Indizien, die sie dort finden konnten. Steh einfach rum wie der nutzlose Idiot, der du bist, und bring die Dinge nicht noch mehr durcheinander, als du es jetzt schon getan hast.
Unwillkürlich mußte ich an einen Mord denken, den ich in Detroit aus erster Hand mitbekommen hatte. Es war in meinem ersten Jahr bei der Polizei. Mit meinem Partner war ich einem Notruf wegen eines Familienstreits nachgegangen. Er hatte mit dem Mann in der Küche gesprochen, während ich bei der Frau im Wohnzimmer saß. Sie hatte kein Wort gesagt. Sie hatte sich nur auf der Couch hin und her gewiegt und dabei ein Kissen fest an sich gedrückt. Ich konnte die Nacht nicht schlafen. Immer sah ich ihr Gesicht. Drei Tage später mußte ich zusehen, wie sie ihre Leiche in einem Sack wegfuhren.
Sie hatte versucht, ihn zu verlassen. Wie oft hatte man uns das gesagt? Die gefährlichste Zeit beginnt, sobald die Frau den Entschluß zur Trennung gefaßt hat. Das ist der Siedepunkt. Wenn eine Frau ermordet worden ist, beginnen die Untersuchungsbeamten immer mit derselben Frage: Wo ist der Ehemann oder der Freund?
»Bruckman ist uns gefolgt«, sagte ich laut. Meine Stimme verklang fast in der winterlichen Stille. »Das muß so gewesen sein. Wie hätte er sonst wissen können, daß sie hier war?« War er in der Kneipe? Er konnte meinem Wagen die ganze Strecke auf der Hauptstraße nachgefahren sein. Aber wie konnte er dann wissen, in welcher Hütte sie war? Er konnte mir doch nicht auf meiner Stichstraße gefolgt sein, oder doch? Konnte ich so verdammt unaufmerksam sein?
Ich hatte nicht die Polizei verständigt. Ich war nicht bei ihr geblieben. Ich hatte sie in einer Hütte ohne Telefon alleingelassen.
Der Wagen der County-Polizei fuhr vor und rettete mich. Noch ein paar Minuten allein mit meinen Gedanken, und ich hätte mich umgebracht.
Sie stiegen auf beiden Seiten zugleich aus dem Wagen aus, ein junger Mann und eine junge Frau, und die Uniformhüte der Chippewa-County-Polizei saßen vorschriftsgemäß. Zusammengerechnet waren beide immer noch jünger als ich.
»Wo ist der Sheriff?« fragte ich.
»Der hat zu tun«, sagte die junge Frau. Ihr dunkles Haar hatte sie unter ihren Hut gesteckt.
»Rufen Sie ihn an«, sagte ich. »Ich will, daß er hier erscheint.«
»Sir, ich sagte Ihnen bereits, er hat zu tun.«
»Das kann er sich sonstwo hinstecken. Er hat gefälligst hier zu sein.«
»Beruhigen Sie sich bitte, Sir«, sagte der junge Mann. Er hatte den kurzen Standardnormalhaarschnitt der Polizei. Er kam mit ausgebreiteten Händen auf mich zu, etwa so, wie man auf einen Hund zugeht, der Tollwut haben könnte. »Sind Sie Mr. McKnight?«
»Ich
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