Unter dem Zwillingsstern
nicht so bleiben kann, wie sie ist. Erst nach einer richtigen Re v olution wer d en solche antiquierten Vorurteile für im m er verschwinden.«
»Gestatten S i e m i r in diesem Punkt e t was spätbürgerlich-dekadente Skepsis«, entgegnete Dr. Gold m ann. »Oder wollen Sie bestreiten, daß Stalin im letzten J a hr all d ie alten anti s e m itischen Kli sc hees gegen Trotzki aufgefahren hat? Ich glaube kaum, daß m an die Bolschewisten als frei von A ntise m itis m us bezeich n en kann.«
Trotzkis Parteiaussc h l u ß war für Käthe ein großes Kümmernis, denn er sc hi en ihr die richtige L inie zu vertreten, doch sie wußte es besser, als derartige Zweifel in e i ner Auseinandersetzung mit Martin Gold m ann zu zeigen. Amüsiert beobac h t e te Ca r l a, wie ihre Lehre r in kerzengerade und voller Elan eine flam m ende Rede über den Marxis m us als Grundlage der Überwindung aller Vorurteile hielt. Sie mußte Dr. Gold m ann wirklich sehr mögen, wenn sie ihn so dringend bekehren w ollte. In ihrem nächsten Brief würde sie Robert da m i t aufziehen, was er von Kathi als Stiefmutter hielte.
»…und wenn einzelne P ersonen unv o llkom m en sind, so ändert das nichts am P r inzi p !«
»M m . Der Wert von Prinzipien ist für m ich im m er an den Personen erkennbar, die sie vertreten, und«, schloß Dr. Gold m ann galant, »das ist das höchste Zeugnis f ür Ihre Prinzipien, Käthe.«
»Ko m pl i m ente sind die letzte W a ffe der Bourgeoisie«, antwortete Käthe voller Zuneigung, und Carlas Belustigung wuchs sich zu einem stummen Gelächter aus, das s i e nur unter Aufbietung aller gelernten Ate m techniken unterdrücken konnte. T rotzdem schüttelte es sie ein wenig.
»Geht es Ihnen gut ? « fragte Dr. Gold m ann sie besorgt.
»Danke«, erwiderte Carla mit s c hwacher Stimme, »es g eht mir wunderbar.«
Nachdem Werner Krauß wieder in die höheren Gefilde der B erliner Theater entschwunden war und der Alltag in Nürnberg einkehrte, hörte es auf, Carla wunderbar zu gehen. Fast über Nacht versank sie in eine tiefe Depression. Es gab keinen wirklichen Anlaß, der Direktor hatte ihr bereits versichert, m an sei sehr m it ihr zufrieden und würde ihren Vertrag v er l ängern, und einige d e r Kriti k en hatten sie in einem Satz als »reizend und ke c k« oder »Und als Prinz rührt uns…« erwähnt. Aber sie konnte sich nicht darüber freuen. Es erschien alles so banal. Was hatte sie sich eigen t lich vorgestellt? Daß die eine Szene m it W erner Krauß in einem dir e kten Engage m ent als jugendliche Heldin bei Max Reinhardt oder L e opold Jessner enden würde? Das war so unrealistisch wie Frau Beurens sarkastische Vision von allen Hauptdarstellerinnen, die plötzlich gleichzeitig die Ruhr beka m en. Nein, sie w ürde h i er n o ch ja h relang dahinve g etieren m it R o llen, die ein Kind genausogut spielen konnte oder für die m an nicht mehr Tiefe benötigte als für das Posieren vor der Photoka m era. Eine endlose Kette von, wie hatte Robert es a u sgedrückt, Klinkenputzern und m it viel Glück eine richtige Rolle in zwei, drei Jahren, und das war dann bestim m t die Heldin in einem Melodra m , die nur richtig in Ohn m acht fallen m ußte.
Reizend, rührend, was war das schon; alle jungen Schauspielerinnen waren reizend und rührend. D i e Zukunft bestand aus einem langen Marsch durch die Ödnis von o b erflächlichen kurzen Rollen, und am Ende fanden sich n ur längere o berflächlic h e Rollen. Sie würde sterben und vergessen werden, ohne auch nur ein einziges Mal die Menschen w i rklich erschüttert zu haben. Ihr fehlte der göttliche Funke.
Carla saß brütend in ihrem Z i m m er und starrte auf die W and m it ihrem senti m entalen Druck, der wie eine Illustration aus der Gartenlaube aussah. Ein reizendes, rühre n des Mägdelein, das Blu m en a u f ein Grab legte. W i e abscheuli c h. Warum hatte sie das monatelang ausgehalten? S ie rückte näher her a n und las die Unterschrift in verschnörkelten, gotischen Lettern: Am Elterngrab. Das war zu vi el. Der Rah m en m it dem Druck flog auf den Fußboden, und das Splittern des Glases verursachte ihr eine kindische Befriedigung. Um das Maß vollzu m achen, rutschte sie aus ihrem Schneidersitz vom Bett hinunter und trat auf das g r äßliche Ding, ehe sie sich erinnerte, daß sie barfuß war. Großartig. S i e hu m pelte gerade auf die Tür zu, als Frau Oppelt, i h re Ver m ieterin, ihr du r ch die Tür zurief: »Fräulein Fehr, da is a Herr, de r wo
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