Unter dem Zwillingsstern
h en Zorn, der si ch m it ein e m mal auf Käthe Brods Gesicht z ei g te.
»Gute Nacht!« Genug war genug. Gez w ungen zu sein, still zu sitzen und sich anhören zu müssen, w i e ein Reaktionär über die Er m ordung des Ministerpräsidenten tri u mphierte, war für Käthe Brod schon schlimm genug gewesen, aber selbst ihre Trauer nicht zeigen zu dür f en h atte all ihre Reserven an Diszi p lin g ekost e t. J e t z t ließ e n sich die T ränen, die in ihren Augen brannten, seit sie von dem Attentat g ehö r t h atte, nic h t m ehr zurü c khalten, und sie floh auf ihr Zi mm e r .
Sie weinte nicht n u r um Kurt Eis n er. Sie hätte blind sein müssen, um nicht zu be m erken, wie sich das Kli m a in M ünchen in den letzten Monaten verändert hatte. Bei der Wahl i m J a nuar, der ersten W ahl, an der sie als Frau überhaupt t e ilneh m en konnte, war es bereits zu einem niedersch m etternden Sieg für die konservativen Parteien gekom m en. Und erst vor w e nigen Tagen hatte ein Besuch in der Alten Pinakothek sie an einer Gruppe Stud e nten vorbeigeführt, die laut »Nieder m it Eisner! Nieder m it den Juden« skandierte.
Daß Heinrich Fehr den Mini s t er p r ä s identen heute einen »jüdischen Bolschewisten« genannt hatte, sollte sie nicht weiter überraschen, obwohl sie früher noch nie eine a n tise m itisc h e Äußerung von ihm gehört hatte. Doch der Mo m ent w a r unerwartet verletzend gewesen. Sie fühlte sich nicht als Jüdin. Seit Jahren hatte sie keine Synagoge m ehr besucht oder dara u f geachtet, k oscher zu e s sen. In einer idealen Welt gab es ihrer Vorstellung nach überhaupt keine Religionsgruppen m ehr. Und dennoch hatte sie s i ch heute getroffen gefüh l t.
Während sie die Tür zu ihrem Zimmer abschloß, wünschte Käthe sich ein weiteres Mal, d i e Stelle bei den Fehrs nie angenommen z u haben. Ein guter Mann, einer der wenigen Hoffnungsträger des Landes, war heute er m ordet worden, und sie ließ sich ihren Lebensunterhalt von je m and e m b e zahlen, dem nichts Bes s eres einfiel, als offen darüber zu triu m phieren. Sie konnte Carla, die ihr gefolgt sein m ußte, fortgehen hören. Irgend etwas besch ä ftigte das Mädchen; es wäre vielleicht angebracht, doch noch e i n m al m it ihr zu s p rechen. Aber nein, sich so zu zeigen, m it g e röteten Augen und voll innerem Aufruhr, würde nur ihre Autorität untergraben; sie w ar kaum in der Verfassung, Ratschläge zu erteilen. A ußerde m , dachte sie mit aufflackernder Feindseligkeit, bezahlte m a n sie in diesem Haus für W i ssensver m ittlung, nicht, um Trost zu spenden; sie war eine Lehrerin und kein Kinder m ädchen. Carla konnte zu der törichten kleinen Frau Fehr gehen, die sicher m ehr als bereit zu U m a r mungen und Herzensergüssen war.
Carla ging nicht zu Anni; sie legte keinen W ert darauf, ihrem Vater an diesem Abend noch ein m al zu begegnen. Statt dessen lief sie nach kurzem Üb e rlegen zu Mariannes Z immer, das zu m Glück n i cht abgeschlossen war. M arian n e lag auf i hr em Bett, das Gesic h t in das Kissen vergraben, aber zu m indest weinte sie nic h t, w i e es Frä u lein Brod, die doch nichts wissen konnte, rät s elhafterweise getan hatte. Ihr Haarknoten hatte sich etwas gelöst, und als sie sich bei Carlas Eintritt aufrichtete, sah sie jünger aus a l s die vierundz w anzig Jahre, die sie zählte, was bei i h r selt e n war.
»Geh weg«, bat sie m it zitternder Stimme.
»Ich habe m ein Gutenachtgebet noch nicht gesagt«, antwortete Carla, »und wenn du es nicht m it m i r sprichst, tut es nie m and.« Marianne w arf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Sie war nicht dum m , und sie wußte, daß Carla gewöhnlich keinen Enthusias m us für Gebete zeigte und ohne jedes E rröten log, wenn es ihren Zwecken diente. Andererseits gehörte es zu ihrer selbstauferlegten Buße für all die haßerfüllten Gedanken, d i e sie in bezug auf Carlas Mutter und gelegentlich auch auf Carla selbst gehegt hatte, zu versuchen, ihre kleine S chwester zu retten.
»Also gut, aber dann gehst du.«
Sie knieten beide nieder; Maria n ne bekreuzigte sich und begann, wie es ihre eigene Mutter vor vielen Jahren m it ihr getan hatte: »Müde bin ich, geh zur Ruh…«
Aber der Frieden, den das kindli ch e Gebet so n st im m er mit s ich brachte, stellte sich heute nicht ein; st att des s en erinnerte es sie an die Zeit, a ls i h re W elt zer b r a ch, als ihr V ater sich v o n einem gutmütigen, liebevollen Mann in einen bösartig e
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