Unter dem Zwillingsstern
leisten. Ich gebe zu, ich finde diese Tätigkeiten ebenfalls enervierend lang w eilig, aber ich bin darauf angewiesen, sticken, stricken und nähen zu können.«
Sie be m erkte, daß ihre Schülerin betreten dreinsah. Carla kam der Gedanke, daß es viell e icht sinnvoll gewesen wäre, Fräulein Brod in all den Jahren etwas zum Anziehen zu schenken anstelle von Büchern. Es stim m t e, das, was sie trug, sah häufig alt und oft gewaschen aus. Aber irgendwie hatte s i e etwas wie neue Klei d er nie m it der ernsten, intellektuellen Käthe in Verbindung gebracht.
»Zweifellos wird deine Schwester sich sehr über deine Be m ühungen freuen«, fuhr Käthe, die Carlas Mienenspiel richtig deutete, fort.
»Jedem bereitet ein Geschenk Vergnügen, welches beweist, daß m a n sich etwas dabei gedacht hat. Ich zum Beispiel war da m als hoch erfreut, Bertha von Suttners Die Waffen nieder! zu bekommen.«
Ihre Be m erkung zauberte in ihrer S chülerin et w as hervor, das sie an Carla in bezug auf sich selbst noch nie gesehen hatte, und auch sonst nur selten; ein scheues Lächeln voller Zuneigung.
»Danke, Kathi«, sagte Carla, »das war lieb von Ihnen.«
Früher hätte sie Anstoß daran genommen, so ohne weiteres m it ihrem Vorna m en angeredet zu werden, und dann auch noch in einer geringgeschätzten süddeutschen For m . Jetzt empfand Kä t he Verlegenheit und Freude zugleich. Sie räusperte sich und schaute auf Carlas letzten A ufsatz, um über den Mo m ent hinw e gzukommen, aber sie be m erkte, daß sie Carlas Lächeln erwiderte.
»Das Mädchen wird ein m al Großes leisten«, sagte sie später stolz zu ihrer Freundin Toni Pfülf be i m Treffen des Ortsverbandes der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. » S ie wird i h ren Doktor m a c hen, m i ndestens, und d a zu nicht ins Ausland m ü ssen. Ich glaube, s i e k önnte ei n e wunderbare Anwältin werden.«
Toni Pfülf s chaute unwillkürlich zur Gastgeberin, Anita Augspurg, für die es Ende des letzten Jahrhunderts noch notwendig gewesen war, in Zürich zu studieren, um üb e rhaupt als Juristin pro m ovieren zu können, und Käthe nickte. »Jetzt i s t es anders«, sagte sie. »Das hat nic h t zuletzt sie durchgesetzt.«
Gegenüber Anita Augspurg oder Con s tanze Hallgarten hätte sie ihrem Stolz auf ihre Schülerin nicht so offen Au s druck verliehen, aber Toni war ebenfalls Lehrerin; sie v e rstand, daß m an sich für ein Kind erwär m en konnte, ohne deswegen gleich ein eigenes haben zu wollen. Sie bedauerte, daß sie Toni so selten sah, denn unter ihren Genossinnen war Toni Pfülf eigentlich ihre be s t e Freundi n ; aber Toni war auch die SPD-Abgeordnete des Wahlkreises Oberbayern/Schwaben im Reichstag und entsprechend oft nicht in München. W ir haben das W ahlrecht erst seit vier Jahren, dachte Käthe und gestattete s i ch ein Aufwallen reinen T r iu m phes, aber selbst hier, in diesem konservativen Bayern, gewinnen Frauen W a hlen.
»Aber wie lange noch«, sagte Toni laut, und Käthes gute Laune verschwand. Deswegen tagten s i e heute hier; im letzten Jahr hatten die Reaktionäre, über die m an früher nur lächelte, aufgehört, ko m i sch zu sein. »Ich m ache m i r Sor g en. Ich m ache m i r wirklich Sorgen. Der Pöhner ist nicht m ehr Po l i zeichef, das ist gut, aber dafür sitzt er im Justiz m i nisteriu m , und ganz ehrlich, das ist f ast noch schlim m er. Außerdem i st er nicht der einzige. W enn die Braunen Ernst m achen also, ich weiß nicht, wer hier in der Regierung ihnen entgege n träte.«
»Und wen wundert das ? « warf A n ita Augspurg erbittert ein. »In den Parlamenten sitzen doch die gleic h en altersschwachen Greise, dieselben Parteigötzen, die vor dem Krieg zu allem ja und a m en gesagt haben. Und woher kom m en sie? Bea m te, Pfarrer, Offiziere es sind kaum Menschen dabei, denen der Geist nic h t gründlich geschurig e lt wurd e !«
Mit einem s chwachen Lächeln fügte sie hinzu: »Anwesende natürlich ausgenommen.« Anita selbst h a tte 1919 für die USPD kandidiert und war gescheitert, was ihr jedo c h nie m and zum Vorwurf m achte; die Partei hatte in Bayern nur drei Sitze erhalten und da m it a m schlechtesten abgeschnitten.
Toni läc h elte zurück u nd m eint e : »Im Reichstag wird es schon langsam besser. Aber die Herren in den Ministerien…«
Sie seufzten alle einträchtig. Der bayerische Ministerpräsident, Gustav von Kahr, ignorierte bereits seit Monaten alle Anordnungen aus Berlin u nd m achte k ein
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