Unter dem Zwillingsstern
m onate, aber sie haßte jeden einzelnen Stich, war es doch genau die stupide Art von Beschäftigung, vor der sie ihr Leben lang geflohen war.
Im Mai begann die deutsche W estoffensive, und ihr Leben stellte sich aber m als v ö llig um. W ieder w u rden d ie St a atenl o sen i n ter n ie r t, dies m al alle Männer und Frauen im Alter zwischen siebzehn und fünfundfünfzig. Käthe fand sich als Nr. 181 in einer zum Lager u m gewandelten Ziegelei wieder, zu s am m en m it m e hr deut s chs p rachi g en E m igranten, als ihr wä h r end i h rer ge sa m ten Zeit in Frankreich über den W eg g e laufen waren. Sie wurden eingeteilt in Deutsche und Österreicherinnen, was sie bizarr fand, denn was für einen Unterschied m achte das jet z t noc h ? Auch die Altersbegrenzungen waren sinnlos, denn natürlich ließ m an Kinder bei ihren Müttern.
Ständig m it einem H a ufen Fre m der zusam m e n zu sein, Kopf an Kopf auf Stroh zu schlafen, sich auszuziehen, ohne zu m i ndest einen Stuhl für die Kleider zu haben, nie m als, ob beim Waschen oder bei den si m pelsten Körperfunktionen, a l lein sein zu können genügte, um viele der i n ternierten Frauen z u sam m enbrechen zu lassen. Dazu ka m en die Sorgen, die sie sich um ihre ebenfalls internierten Männer m achten, zu denen keine Verbindung m ehr bestand. Das einzige, was es in dem Lager zu tun gab, die Reinigung des Gebäudes und der Küchendienst, beschäftigte höch s tens ein paar Stunden. Dann dehnte sich die Zeit endlos lange aus, um sich das Leben gegenseitig schwerzu m achen. Nach zwei W ochen gab es den ersten Selbst m ord.
Um selbst d er ner v lich e n Zerr ü ttung zu entgegen, organisierte Käthe Schulstunden für die Jugendlichen und die Kinder. W i e sich herausstellte, war sie nicht die einzige m it Lehrerfahrung im L a ger; Lektionen in M athe m atik, Lit e rat u r, Sprachen oder Geographie zu geben hielt nicht nur den Geist rege, sond e rn auch die Kinder beschäftigt und einige der Erwachsenen, die e n tweder eigene Bildungslücken f üllen oder s i ch schlichtweg ablenk e n wollten. Käthes ei fr i g s te Schülerinnen waren dabei eine junge F r au aus Bayern und ihre beiden Töchter.
» W issen S’, Fräulein B rod, ich hab nie Zeit gehabt, groß in die Schul zu gehen, bei uns gab’s Arbeit auf dem Hof und net genug Leut, wegam Krieg und so. Aber wo I dann gheiratet hab, hat der Ludwig, der wo m ein Mann ist, a l so der Lu d wig hat m ir im m er abends vorglesen, weil er nä m lich in München auf d e m Penn a l war in seiner Ju g e n d. Er wollt auch, daß unsere Kind e r was G’scheits lernen, aber dann ist halt der Hitler komma, und er hat seinen Hof an den Nachbarn verkaufa müssen. Zuerst sind wir ins Saarland, weil da hat s e ine C ousine hin g ehei r at e t, und dann hat’s uns zu die Franzos gezogen.«
Diese Frau, deren Name Inge lautete, war eine der wenigen, die trotz der bedrückenden Lage nie den Mut verlor. Gram m a tik und Hochdeutsch blieben ihr ein Buch m it sie b en Siegeln, aber Käthe war selten einem Menschen begegnet, d e r fähiger w ar, das Beste aus einer schlechten Lage zu m achen. Inge organisierte Spiele für die Kinder, sie sang m it ihnen und brachte ihnen eine beträchtliche Anzahl Lieder bei, wobei sie echte Musikalität und einen reinen S opran of f enbarte, u n d sie ler n te Käthes L e ktionen in Mathe m atik, was nie Käthes bevorzugtes Fach gewesen war, so gut und so schnell, daß Käthe ihr sagte, hätten sie beide die gleiche Erziehung erhalten, wäre Inge wohl Naturwissenschaftlerin geworden.
»Aber wo, Kathi. I bin halt gut im Rechnen.« In der dritten W oche trafen en d lich die ersten Briefe im Lager ein, und Inge erfuhr, daß ihr Gatte sich in d e m Internierungslag e r Les Milles in der Provence befand. Aber die Briefe waren vorher in Paris zensiert worden, m ehrere Stellen waren ausgestrichen, und obwohl das bei allen so war und daher nie m and Gewißheit besaß, verstärkten sich die Gerüchte über ein deutsches Vordringen in Nordfrankreich.
All m ählich m achte sich Angst im Lager b r eit. Käthe, In g e und zwei weit er e Frauen w u rden sc h lie ß lich gewä h l t, um bei dem Ko mm andanten vorstellig zu werden und i m N a men der Lagerinsassen zu fragen, ob man beabsichtige, sie zu verlegen.
»Nein«, erwiderte der Kom m andant brüsk. »Die Verkehrswege sind ver s to pf t, die Tra n sport m ittel rar, und ga n z offen, M e sda m es, sie werden f ür W i chtigeres gebra u cht.«
»Es
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