Unter dem Zwillingsstern
Inges Finger Perle um Perle abzä h lten, m achte sie sich bereit, ihn ausz uf ühren. Ein m al hatte sie geglaubt, bereit zu sein, für den Frieden und die Gleichberechtigung zu sterben, dann für die Sache der Arbeiter aller Nationen. Aber letztendlich lief es wohl auf die gleiche Grundfrage hinaus: m enschlich e s Lebe n . W arum wurde ihr das erst in einem Lager voller Fre m der in einem fr e m den L a nd klar? Wer einen Me n schen rettet, ziti e rte die Stim m e ihres toten Vaters aus dem Ta l m ud, und zum e r sten Mal dachte sie ohne den Groll ihrer Jugendjahre an ihn, der rett e t die ganze Welt.
»Inge«, sagte sie dann, und die j ü ngere Frau verstum m te, »ich glaube, es gibt eine Möglichkeit, Sie und Ihre Töchter aus dem Lager und bis nach Marseille zu bringen. Vielleicht sogar noch zwei, drei von den anderen Kindern. Das kommt darauf an, wieviel ein Dia m ant von z w ei Karat heute wert ist.«
Als sie ihren Plan erlä u t ert hatte, st arrte Inge sie an. »Ja a b er Sie kom m a do c h m it, Kathi ? «
»Nein. Nicht, wenn statt m einer ein Kind gehen k a nn. Sehen Sie, Inge, ich bin gerne am Leben und in Freiheit, aber ich bin nicht m ehr jung, und viele m einer Träu m e konnte ich m i r erfüllen. Sie dagegen, Sie und Ihre Kinder, Sie haben alles noch vor sich.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie Inge überzeugt hatte. Dann m achte sie s i ch auf, um einen franz ö sischen K o mmandanten zu bestechen. A m nächsten Tag verließ der private Wagen des Colonels m it seinem Chauffeur, Inge, ihren T öchtern und einem Jungen, dessen Mutter ihn Inge anvertrau t e, das Lager in Richtung Süden.
» W enn Sie in Sicherheit sind«, flü s terte Käthe Inge zum Abschied zu, »dann schreiben Sie m einer Schülerin Carla.« Inge nickte. Sie hatte d ie A d resse auf die Rückseite d es Brie f es i h res Gatten n oti e rt.
Käthe hätte ihr auch gerne die von Dr. Gold m a nn im fernen Paraguay gegeben, doch da Martin häufig u m zog und ihre Verbindung m it d e m Kriegsbeginn abgerissen war, war sie ihr nicht m ehr b e kannt. »Und bitten Sie Carla«, f uhr Käthe f ort, überra s cht, daß sie es jetzt so einfach zugeben konnte, »Martin zu sagen, was sie im m er über m eine Gefühle ihm gegenüber ver m utete, entspreche der W ahrheit. Sie werden es nicht v e rgessen, nicht wahr, Inge ? «
Als der W agen m it Inge und den Kindern verschwunden war, e m pfand Käthe etwas, das sie an den A u genblick vor Jahren erinnerte, als sie Heinrich Fehr gege n übertrat, in dem Bewuß t sein, nichts m ehr zu verlieren zu haben. Es war eine eig e nartige Freiheit, die Freiheit des freien Falls, wenn jede Möglich k eit, sich noch an irgendwelchen Klippen festzuhalten, verschwunden, aber der Aufprall noch weit entfernt war. Die Unsicherheit und Bedrückung der letzten Wochen verschwand, und sie fühlte sich g l ücklich, während sie sich daran m achte, für ihre Schülerinnen den Deutschunterricht vorzubereiten.
Tijuana gehörte in keiner W eise zu den b e m erkenswerten P unkten Mexikos, die m an sehen m ußte; es handelte sich um einen häßlichen, kleinen Ort voller Fliegen, der nur aus einem Grund regel m äßig Besucher e r hi e lt: e r lag u n m ittelbar an der Grenze zu den Vereini g ten Staaten. In der l e t z ten Zeit be d eutete das nicht nur den per m anenten Reiseverkehr zwischen dem Nor d en A m erikas und Mexiko, für den die m exikanischen Gastarbeiter s o rgten. W enn E m igranten, die nicht m it einem Einwanderervisum in die USA gereist waren, aber eines benötigten, um ihren Aufenthalt zu legalisieren, dies auf möglichst sichere W eise tun wollten, dann verbrachten s i e zwei Tage in Tijuana und versuchten danach, als reguläre Einwanderer in die USA zurückzukehren. U m gekehrt versuchten eine Menge E m igranten, die in einem der süda m erikanischen Staaten Aufnah m e gefunden hatten, auf diese W eise an ihr ei g entliches W un s chziel zu gelangen. Es gab auch noch eine dritte Art Grenzüber s chreitende: Da in Kalifornien Glücksspiele verboten waren, rei s ten eine Me nge spi e lwütig e r r e icher A m erikaner für ein Wochenende nach Mexiko, wo m ehr als ein gewitzter Spielsalonbesi t zer längst dieses Bedürfnis erkannt und die langweilige U m gebung von Tijuana d a für in Kauf genom m en hatte.
Der grauhaarige, dünne Herr, der dem m exikanischen Grenzposten seine Pa p iere vorle g te, gehörte zur zweiten Kategorie, das sah m an so f ort. W äre er r e ich g e wesen, dann
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