Unter dem Zwillingsstern
konnte. Carla war in den Tiefen des Spiegels verschwunden und ließ sie ihr W erk vollenden.
Mit jedem Schritt, den sie in d e r at e m losen Stille auf ihren Vater zu m achte, zerst ö rte sie ein Stück ihres ge m einsa m en Leb e ns. Die Absätze von Annis hohen Schuhen Anni hatte immer größer wirken wollen klapperten auf dem Parkettboden, in kurzen Abständen, wie die Zeiger einer dieser neuen, lauten Uhren. Das Gesicht ihres Vaters schwamm auf sie zu, f arblos, e i n bleicher, zerklüfteter Mond. Sie legte ihm die Ar m e um den Hals, und dann vollendete sie ihre Rache. Es war Philipp, der i h r u nabsic h tlich gezei g t hatte, wie sie es konnte. Eigentlich hätte sie es schon l ä ngst begreifen müssen. In den Märchen war ein Kuß der m agische S c hlüssel. Er weckte Dornröschen aus dem S c hlaf und verwandelte den Frosch in einen Prinzen. Und m anch m al, m anch m al verband er a u ch plötzlich eine ganze Kette von Eindrücken und Erinnerungen m iteinander und gab einem die Macht zur Z erstörung.
Da sie i h r Haar wie An n i hochge s te c kt hatte, gab es keinen Schir m , der den Menschen in diesem Raum den Blick v erwehrte, als sie den Kopf ihres Vaters zu sich herunterzog und ihn auf den Mund küßte, wie Philipp sie gekü ß t h atte, nic h t k urz, und nicht wie ein Kind. Er war so viel älter und kräftiger als sie; es gab nichts, das ihn daran hinderte, sie zurückzustoßen. Aber genausowenig, wie er bei ihrem Auftauchen das Nächstliegende g e tan und ihr befohlen hatte, sofort zu verschwinden, konnte er de m , w a s sie tat, jetzt ein Ende m achen.
Das entsetzte Schweigen um sie h e rum wirkte lauter, als es die schockiertesten Ausrufe gewesen w ären. Als Carla ihre Ar m e v o m Hals ihres Vaters löste und einen S c hritt zurücktrat, zitterte sie ein wenig, aber sie sa g te in der gleichen, fröhlichen Stim m e:
»Mei, daß a grad so viel Leit zu m einer Beerdigung kumma, des hätt ich net gedacht. Aber du gibst m i r halt allweil n u r das All e rbeste, gell, Heini ? «
Dann drehte sie sich um und ging hinaus, m it Annis kleinen, beschwingten Schritten. E rst als sie Robert erreicht hatte und er die beiden Türflügel hinter ihr schloß, s pürte s i e, wie etwas sie verlie ß ; ob es Annis Geist oder ihre eigene S eele war, w u ßte sie nic h t.
5. KAPITEL
Den Mädchen des Internats Hohencrem erschien die Neue von Anfang an seltsa m . Zunächst ein m al kam sie im Deze m ber an, knapp drei W ochen vor den Weihnachtsf e rien. Dann kannte sie sich m it den alltäglichsten Schulregeln nicht aus, d e m Aufstehen und Setzen in der Klasse, der Rangordnung i m Schlafsaal, der si m plen Tatsache, daß m an bei Tisch nicht sprach und vor allem nicht um m ehr bat, als einem zugeteilt wurde. Ihre L e istu n gen in den einz e l nen Fächern waren gut, teilweise sogar sehr g u t, nur im Religionsunterricht versagte sie völlig, bis sich herausste l lte, daß sie bisher überhaupt keinen erhalten hatte.
»Aber Sie können doch keine Heidin sein, Fehr«, sagte der Pastor, der zwei m al wöchentlich aus der S t adt ka m , um die Schülerinnen von Hohencrem zu unterrichten, konsterniert. »Sie sind doch gewiß getauft und konfir m i ert worden.«
Nach einigem Zögern eröffnete sie ih m , m an könne sie wohl als katholisch b ezeich n en. Das war e i n Proble m . Mitten in d er Mark Brandenburg ließ sich so schnell kein katholischer Pfarrer auftreiben. Also ließ m an sie vorerst an den S tunden des Pastors teilneh m en, während die Direktorin nach Mün c hen schrieb und um nähere Anweisungen bat. Eine Woche später beschied sie d e m Pastor sch m allippig, m an müsse die kleine Fehr w ohl ganz ohne Seelsorge lassen.
Das einzige andere Proble m , das sich noch vor den Ferien m it der Schulleitung ergab, entstand wieder durch die Unkenntnis der Neuen, was das schulisc h e Alltagsleben b etraf. Sie wurde dabei erwischt, wie sie zwei Briefe direkt in den P ostsack ste c kte. Als m a n sie zur Rede stellte, erwies sic h , daß sie nicht gewußt hatte, daß jeder ein- und ausgehende Brief selbstverst ä ndlich vorher d er jeweili g en Klassenleiterin vorgelegt werden m ußte.
»Und einer dieser Briefe«, schloß die Direktorin streng, während sie m it d e m Finger auf den U m schlag pochte, »ist an einen Mann gerichtet.«
Das Mädchen erwiderte, das sei i h r Cousin. Da die Adresse wirklich die ei ne r Schule war, e n tschied sich die Direktorin, ihr zu glauben, zu m al es ansonsten
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