Unter dem Zwillingsstern
nichts über die neue Schülerin zu klagen gab. Sie war fleißig, sie war intelli g ent, und als sie an die Reihe ka m , Gedichte aufzusagen, bewies sie ein großes Talent für den Vortrag.
Den Schülerinnen dagegen war s i e immer noch ein Rätsel. Sie erzählte nichts von sich, sie hatte k e ine Photographien von ihrer Fa m i lie dabei, und irgendwer behauptete, daß sie keine Besuche beko mm en dürfe. Außerdem fuhr sie nic h t wie die meisten anderen nach Hause, als die W eihnac h tsferien begannen. Nur zwei andere Schülerinnen blieben wie sie, aber das waren die beiden Stipendiatinnen, die ihren Aufenthalt hier ohnehin nur der W ohlfahrt verdankten und sich eine Fahrt nach Hause ein f ach nicht leisten konnten. Die Fehr dagegen wirkte nicht so, als stamme sie von ar m en Leuten ab; sie trug selbstverständlich die gleic h e Schuluniform wie alle anderen, aber i h re U n terwäsc h e war aus Seide, nicht aus B aumwolle o der Leinen.
Nach dem Ende der F erien ka m e n einige der Schülerinnen, die Verwandte in Bayern hatten, m it s e nsationellen Neuigkeiten zurück. Die Fehr w ar nicht nur UNEHELIC H , sie hatte außerdem in München einen solchen Skandal verursacht, d a ß es ihren Vater ges e llscha f tlich völlig rui n iert hatte. W as genau, das wußte niemand, so daß die wildesten Gerüchte die Runde m achten.
Auch die beiden Stipendiatinnen warteten m i t Geschichten auf. W i e für jeder m ann erkennbar, hatte sich die Fehr während der Ferien ohne Erlaubnis in die Stadt begeb e n und sich dort die Haare schneiden lassen; sie trug sie jetzt als Pagenkopf, so wie die m eisten Da m en in den Illustrierten, aber gewiß nicht junge Fräul e ins im Internat Hohencre m . Außerdem zeigte sich d e utlich ein roter Haara n satz; s ie hatte GEFÄRBTE H A AR E . Statt als kühl und arrogant, wurde sie nun als gehei m nisvoll und verrucht betrachtet, was ihren Status sofort hob. Einige der Mädchen fingen nun b e i der Schillerlektüre, wenn von Dunois, dem Bastard von Orleans, d e m K a m p fgefährten der heiligen Johanna, die Rede war, jedes m al das Kichern an, aber das prallte wirkungslos an der Fehr ab, bis sich die Schlafsaalälteste, die Antwolfen, erkühnte, direkt zu fragen.
»Fehr«, sagte sie, sobald alle i h re Gebete gespr o chen hatten und das Lic h t ge löscht war, »stim m t es… daß deine Eltern… nicht verheiratet waren ? «
Alle hielten den At e m an und w a rteten auf das beschä m ende Eingeständnis dieses Makels, denn mittlerw e ile wußten sie ja bereits, daß es stim m t e. Statt dessen seufzte die Fehr.
»Nein. Meine ar m en Eltern. In W irklichk e it w a r alles viel s chli mm er.«
»Ja ? « drängte die Antwolfen überrascht, denn die unnahbare Fehr klang auf ein m al direkt zugänglich.
»Ihr m üßt s chwören, es nie m and e m zu verraten. Mein Leben ist sonst in Gefahr.« Plötzlich schluchzte sie. »Ach, ihr wißt ja nicht, wie schrecklich es war!«
Die Mädchen schworen. Binnen kurzem hockt e n sie alle um das Bett heru m , auf d e m d i e Fehr saß und, nachdem sie sich die Augen getrocknet hatte, leise und stockend erzählte.
»Es ist nun schon so lange her, daß ich Rußland verlassen habe, aber ich k a n n m ich noch an alles erinnern die grauenhafte Nacht, in der diese furchtbaren Kommunisten Ma m uschk a , Papuschka und alle m eine Ges c hwister umbrachten. Selbst m einen lieben Bruder. Der ar m e Alexej, er hatte d o ch alle Me n schen ger n ! Wenn der treue Pjotr nicht einen von ihnen b e stochen hätte, da m it er sein Gewehr m it Platzpatronen lädt, wäre ich heute e b en f alls tot. O Gott, ich wünschte, es wäre Alexej gewesen, der gerettet wurde!«
Den m eisten Mädchen blieb der M u nd o ff en. » W illst du da m it sagen«, fragte die Antwolfen ungläubig, »daß du eine von den Zarentöcht e rn bi st ?«
»Denk daran du hast versprochen, nichts zu verraten«, sagte die Neue beschwörend.
»Aber dann müßtest du älter sein!«
»Das bin ich auch, aber nie m and darf es erfahren. Lenins A genten haben m i ch schon ein m a l aufgespürt, in München, wo ich als Tochter von diesem Industriellen ausgegeben wurde. Meine Groß m utter dachte, dort m üßte ich sicher se i n, so, wie sie die Kommunisten da hassen, aber nein, diese Teufel hatt e n sich als Nazis ver k leidet. Also brachte m an m i ch hier h er. Sie suc h en alle nach einer Erwachsenen; hier unter euch wird m i ch keiner ver m uten. Und offiziell gelte ich ja ohnehin als tot.«
Das
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