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Unter dem Zwillingsstern

Titel: Unter dem Zwillingsstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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daß sich die Bedingungen ihres Aufenthalts in Hohencrem etwas geänd e rt hatten. Z ukünftig durfte sie an Schulausflügen teilneh m en, Besu c he e m pfangen und würde in den Ferien nach Hause fah r en. »Zu Ihrer Schwester, Fehr«, schloß die Direktorin, »die, wie Herr Bach m a ier schreibt, sich danach sehnt, wieder etwas m ehr Zeit m it Ihnen zu verbringen.«
    Das war kein Sieg auf ganzer L i ni e, aber fast. W eihnachten m i t Marian n e und Philipp war besser als Weihnachten eingesperrt in Hohencre m . Während sie zurück in ihr Klassenzi mm er ging, er tappte sich Carla dabei, wie sie eines der C hansons s u mmte, das sie in Berlin gehört hatte. Versuchsweise ging sie dazu über, es zu singen, halbla u t , m it »la« an s t e lle von W o r ten, an d ie sie s ich n icht m ehr erinnern konnte, und f and, daß sie sich m itnichten unmusikalisch anhörte. Solche W under bewir k te die Freiheit in eine m .

TEIL ZWEI

      

     

6. K APITEL
     
    Jean-Pierre Dupont ging zusam m e n m it seiner Sekretärin im Fundus des Theater 22 alte Dekorationsstücke durch, die sich für die neue Inszenierung vielleicht verwe n den ließen, als Dieter hereinka m , aufgeregt für seine Ver h ält n isse, was sich daran zeigte, daß er Heidi nicht m ehr als ein kurzes, zerstreu t es Lächeln schenkte und sofort zu Jean-Pierre sagte:
    »Mir ist eine Kuriosität aus Deutschland ins Haus geschneit. Komm m it, ich bin gespannt, was du davon hältst.«
    » W as für eine Kuriosität ? « fra g te Jean-Pierre m it erhobener Augenbraue.
    »Groß, jung, dick und behauptet, er wäre bereits m it Reinhardt auf Welttournee gegangen. Daran ist natür l ich kein wahres W ort, aber er ist interessant. Ich m öchte, daß er vorspricht.«
    Dieter nei g te nic h t daz u , leicht beeindruckt zu sein, also war Jean-Pierres Neugierde geweckt. Außer d em befanden sie sich in einer Zwangslage. Sie hatten bereits vor ein paar Tagen m it den Proben für Jud Süß angefangen, als der Darsteller der zweiten Hauptrolle, des Herzogs, einen Nervenzusam m enbru c h erlitt und nicht nur das Theater, sondern Zürich und die Schweiz verließ. Natürlich würden sie versuchen, ihn zu verklagen, aber das half ihnen m o m en t an auch nicht w e it er . Das Theater 22, gegründet von Dieter Gredner und Jean-Pierre Dupont, war noch jung, und sie konnten es sich nicht leisten, erst ein Stück anzukündigen und dann wieder abzusagen, gerade in dieser Saison nicht, der bisher vielversprechendsten, wo das gepriesene Ense m b l e des großen Zürcher Schauspielhauses auf Tournee gegangen war und ihnen da m it die Stadt überlassen hatte. Die Saison 26/27 konnte den end g ülti g en Durchbruch v o n ein e m modischen kleinen Elitetheater zu einer Institution bedeuten, und Katastrophen wie der drohende Ausfall eines angekündigten Stückes durften daran nichts ändern.
    Jean-Pi e rre warf seinem Partner einen etwas spöttischen Seitenblick zu. Seit gestern hörte sich Dieter einen hoffnungsvollen jungen Schauspieler nach dem a nderen an, aber er hatte ihm streng verboten, bei den Ter m inen dabei zu sein.
    »Erstens«, erklärte er in seiner bedächtigen, gelassenen Art, »bist du aufgeregt und wünschst dir zu dringend ein Wunder. D a s beeinträc h ti g t dein Urteilsve r mögen. Zw e itens hast du eine m esserspitze Zunge, wenn du nervös bist, und ich will nicht, daß dieses Grünzeug en m asse in Tränen ausbricht, wenn sie wieder gehen.«
    Deswegen ergänzten sie sich so gut. Beide waren Schauspieler, aber Dieter, wie Jean-Pierre ein m al in einem doppeldeutigen Ko m pli m ent sagte, m erkte man das nic h t an. Er hatte die ruhige, unauffällige Aura eines Buchhalters, außer wenn er auf der Bühne stand. Außerdem str a hlte er Aut o rität aus, w e nn er wollt e , was ihm bei s ein e r Regietätigkeit sehr zupaß ka m . Jea n -Pierre hätte sich nie z u getra u t, Regie zu führen. Er wußte, daß e s , um m it Dieter zu sprec h en, »en m asse in Tränen« enden würde. Er war für das Bühnenbild, die Dra m aturgie und den Spielplan zuständig und außerdem der erste Darsteller ihres kleinen Ense m bles.
    Äußerlich bildeten J e an-Pierre und Dieter ein absolutes Kontrastbild. Jean-Pierre sah, wie Dieter ein m al g e m eint hatte, wie eine »etwas versch m i erte Zeichnung im Jugendstil« aus. Er war erst einunddreißig, doch er trug ein pechsch w arzes Toupet und schockierte die Zürich e r da m it, auch am hellicht e n Tag gesch m inkt zu erschei n en,

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