Unter dem Zwillingsstern
übersenden. Eine Kopie existiere in seinen Akten. Ungläubig faltete Carla das l e icht bräunlich aussehende Papier auseinander und stellte f est, daß ihre Finger dabei zitterten. S ie starrte auf die Buchstaben eines off i ziell aussehenden Doku m entes, nicht gotische, sondern lateinische Buchstaben, so wie sie fast überall im Ausland verwendet wurden.
Erst dieses Jahr würde sie beginne n , Englisch z u lernen, a l s let z te Fre m dsprache, aber sie brauchte keine Kenntni s se, um zu begreifen, um was es sich handelte. Es war das gleiche W o rt wie im Französischen. Marriage. Heirat.
Die Unters c hrift i h res V aters war i h r vertra u t, a ber die and e re, die daneben, hatte sie noch nie gesehen. Es war eine großzügige, breit geschwungene Schrift, ebenfalls in lateinischen Buchstaben, von je m and e m , der nie gelernt hatte, deutsch zu schreiben. Angharad Jones. Eine a m erikanische Urkunde über die Eheschließung von Heinrich Karl Fehr und Angharad Jones, ausgestellt in Reno, Nevada.
Sie hätte dankbar und beschä m t sein sollen. Statt dessen kehrte der Haß, den sie längst ausgebrannt und erloschen glaubte, zurück. All die Jahre hatte er den S chlüssel besessen, der sie aus ihrer Isolation hätte befreien können. Es hätte sie nie je m and je m als einen Bastard nennen dür f en. Er war es gewesen, der sie unter diesem Stig m a aufwachsen ließ, und waru m ? Um sich an einer toten Frau zu rächen. Um zu leugnen, daß er diese Frau je geliebt hatte. Und später, um die Tochter dieser Frau für i m m er in seiner Macht zu behalten. Selbst diese letzte Geste war eine Machtausübung. Sieh her, was ich für dich tun kann. Du sollst an meinem Grabe stehen und weinen.
Sie faltete beide Hände inein a nder, um der Versuchung, die Urkunde zu zerreißen, zu widerstehen. Ein Teil von ihr wollte es. Sie hatte bis jetzt als uneheliches Kind gelebt, sie konnte auch als uneheliche E r wachsene weiterleben. Aber es wäre eine kindische Trotzreaktion gewesen, die sie bald bereuen würde.
Einen Tag später, als sie sich ruhig genug dafür fühlte, schrieb Carla an Marianne und P h ilipp ei n en höflichen, v erwandtsc ha ftlichen Brief, der m it der Frage schloß, ob s i e in dieser S chule bleiben solle. Erst im Postskriptum erwähnte sie, daß sie gestern ein postu m es Geschenk ihres Vaters erhalten habe.
W i e sie vermutete, b r achte das Phi l ipp dazu, die Kosten eines Telefonanrufs auf sich zu neh m en.
» W as soll das für ein G eschenk sein ? « fragte er ohne U m schweife, nachdem man sie ein w eiteres Mal i n s Zim m er der Direktorin geholt hatte.
»Die Heiratsurkunde meiner Elter n «, antwortete Carla sanft. »Du hast doch sicher gewußt, daß sie v e rheiratet waren? Der Anwalt, der sie m i r geschickt hat, hat einen so lieben Brief dazu geschrieben, wirklich rührend. Er m eint, er würde m i ch auch gerne vertreten wollen.«
Sie wußte g enau, was P hilipp j e tzt dachte. Un e helic h e Ki n der waren nicht erbberechtigt; eheliche dagegen konnten um einen Pflichtteil prozessieren. Natürlich hatten er und Marianne die bessere Position und vor allem Ressourcen, über die ein vierzehnjähriges Mädchen nicht v erfügte, aber Erbschafts p rozesse da ue rten lange u nd wirbelten viel Staub au f . Sä m tliche Skandale der Fa m ilie Fe h r würden an die Öffentlichkeit gezerrt werden.
»Du, Philipp«, fuhr C a rla fort und wechselte zu einer unbekü mm erten Mädchenstimme, »ich f r eue m i ch schon so, daß ich die nächsten Ferien nicht mehr hier verbringen m u ß. W eißt du, ich m ag die Schule, aber ich habe Fräul e in Brod schon so lange nicht m ehr gesehen, und sie hat m i ch für W ei h nachten ei n geladen. S i e brauc h t auch etwas Ablenkung, wo sie soviel zu tun hat, m it all den Zeitungen, f ür die sie schr e i bt. Da f ällt m i r ein, es wäre wirklich lie b , wenn du der Direktorin einen Brief sc h i c ktest, in d e m steht, daß all diese dum m en Regeln jetzt aufgehoben sind, das Besuchsverbot, das Ausgehverbot und so. Du bist doch jetzt m ein Vo r m und, oder ? «
»Übertreibe es nicht«, erwiderte P h ilipp l e ise, a b er m it sei n er üblichen kühlen Präzision. Er m ußte sich wieder gefangen haben. Carla begann, das Gespräch zu genießen.
»Oh, danke!« rief sie so laut, d a ß die Direkt o rin zusam m enzuckte.
»Du bist der beste Sch w ager von der W elt!«
Sie hauchte ihm einen Kuß durch den Hörer, dann legte sie auf. Zwei Tage später erfuhr sie,
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