Unter dem Zwillingsstern
direkte Antwort auf Reinhardts Dantons Tod vom Vorjahr verstanden.
»Bei Reinhardt hatten wir ein schauspielerisches Panora m a, jede einzelne Szene wunderbar, aber kein politischer Zusam m enhang, kein Konzept«, ereiferte sich ein e r, »Piscator dagegen zeigt uns, wie m an aus einem Klassiker ein echtes Revolutionsstück m achen kann. Er hat den Mut gehabt, die ganzen privaten, bürgerlichen S enti m entalitäten rauszusch m eißen. Und war es nicht g e n i al, Spie g el b erg als Kom m and e ur der Roten Ar m ee und d i e Magistratsperson als Vertreter der W ehr m acht ? «
»Aber die Räuber sind nun m al s enti m ental, und wenn du m ich fragst, ein K arl Moor, der die ganze Zeit n u r v o r sich h i n nu s chelt, i s t kein Karl Moor! Außerde m , wenn P i scator unbedingt den Eisenstein nachah m en will, warum schreibt e r dann nicht den Panzerkreuzer Potemkin für die Bühne u m , statt nur die Musik zu klauen und sie Schiller unterzujubeln ? «
»Nur, weil der Meisel für beides ko m poniert hat, heißt das noch lange nicht…«
»Ach«, schnitt ihm eine Schausp i elschülerin, die wie Carla aus dem Süden ka m , ungeduldig das W o rt ab, »geh m it deinem Piscator!«
Einige von Carlas Mitstudierenden, denen die häuslichen Mittel fehlten, waren darauf angewiesen, sich etwas dazuzuverdienen; vor allem die Männer e n tdeckten d ie Tanzcafés als zusätzlic h e Einko mm ensquelle, denn Tänzer waren dort gefragter als Kellner. Nach und nach entwickelte sich eines der Ta n zcafés, Reutlinger, zu einem abendlichen Treffpunkt; die einen ging e n hin, um zu arbeiten, die anderen, um sich etwas zu entspannen; außerdem entdeckten sie, daß der Geschä f t sführer nicht undankbar dafür war, daß die Schauspielerinnen dabei halfen, den Altersd u rchschnitt der weiblichen Gäste etwas nach unten zu drücken und das Ganze nicht so wie eine Trostver m ittlung für D a m en m ittleren Alters wirken zu lassen. Ebendie s e D a m en fühlten sich dann bedeutend bess e r. Allerdings er w art e te er auch, daß die Mädchen sich zurückzogen, wenn eine der regel m äßigen Besucherinnen des Tanzcafés ei n en der jungen Männer i n s Auge faßte.
Carla war ursprünglich m itgeg a ngen, weil sie schlecht schlief und das Zim m er von Frau P ahlke wahrl i ch keine wohnliche Idylle darstellte, aber sie entdeckte bald, daß es ihr Spaß machte, zu ta n zen und sich in der leichtherzigen K a m eradschaft von Gleichaltrigen gehenzulassen. Wenige von ihnen rechneten da m it, die anderen nach Abschluß der Ausbildung noch wie d erzusehen, und nie m and war an dem f a m iliären Hintergrund des anderen i n teres s iert; g enau das m achte das Zusammensein für Carla so reizvoll. Später erschien ihr das als der Inbegriff ihr e r ersten Berliner Z ei t : in einem Tanzcafé zu sitzen, den Refrain eines Nonse n s-Schlagers mitzusingen und über die Herren der Schöpfung zu lachen, die sich bemühen m ußt e n, dabei ernst zu bleiben.
Lieber Sam danke für die E i n l adung, aber ich kann hier nicht weg; jet z t, im zweiten Semester, geht es ans Eingemachte. Nächste Woche kommt Eduard v on Winterstein, um mit uns zu arbeiten, und wenn wir sehr viel Glück haben, s c haut der Professor auch einmal vorbei; nur weiß natürlich keiner, w ann. Also bleibt keine Z eit, um Dich als Geist in Ha m l et zu bewundern. Außerdem zweifle ich daran, ob Du es gut aufnimmst, wenn ich hinterher »Oh schaudervoll, höchst schaudervoll« zu Dir sage.
Robert war enttäuscht. Oh, der Geist war keine große Rolle; daher hatte er Dieter auch überreden kön n en, ihn außerdem als Fortinbras einzusetzen, der allerdings auch nur zwei Szenen hatte, von denen eine dann auch noch Dieters Strei c hungen zum Opfer fiel. Der Geist und Fortinbras waren zusam m en n u r etwas m e hr als zehn Minuten auf der Bühne, doch Jean-Pierre hatte ihm erl a ubt, b e im Gest a lten des Bühnenbilds m itzuhelfen, und das war es, was er Carla hauptsächlich zeigen wollte. Bereits in dem zweiten Stück, in dem Dieter und Jean- P ierre ihn einsetzten, hatte er entdec k t, daß ihn die Probenarbeit und die Auffüh r ungen nach der Pre m iere zu lang w eilen begannen. Gut, in diesem zweiten S t ück, einer m akabren Komödie, in der er den Gehilfen des Teufels ( J ean-Pierre) spielte, der die Seele eines Gesc h ä f ts m annes (Diet e r) e n tkom m en ließ, war sei n e Rolle nicht so wi c htig wie in Jud Süß gewesen, doch daran allein lag es nicht. E r brauchte
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