Unter dem Zwillingsstern
gesunken war, scharf ein. »Wenn das Kind nicht richtig gesprochen hat, wurde es ignoriert.«
»Aber es hat ric h tig ges p rochen! Im m er.«
W ider W illen stieg e i n e Erinn e ru n g in ihm au f , etwas, woran er jahrelang nicht m ehr gedacht hatte: Barbara, die darauf bestand, daß Robert Kla v ier ler n te, als er v i e r war. Der Jun g e zei g t e k ein echtes Talent dafür, und eines Tages, als die Klavierlehrerin und er sich gegenseitig zur Verzweiflung get r ieben hatten, rannte er auf den Balkon im vierten Stock des Hau s es, in dem sie wohnten, hinaus, kletterte auf das Geländer und drohte hinunterzuspringen. Die entset z te Kla v ierle h re r in h olte sei n e M utt e r, a ls s ie ihn nicht selbst üb e rreden konnte herunterzukom m en. Barba r a, so hatte die Klavierlehrerin sp ä t e r e r zählt, hatte, statt ihr Kind zu besc hw ichtigen, n ur la u t und deutlich m it einem strengen Bli c k auf Robert gesagt: »Wenn er springen will, dann lassen Sie ihn springen.« Daraufhin war Robert kleinlaut von dem Geländer herunte r geklettert. Es war im m er eine Anekdote über seine Eigenwilli g keit und E xzentrizität gewesen, doch nun, unter Käthe Brods aufmerksa m en blauen Augen, nahm sie eine andere Färbung an und verlor jede Ko m i k. Es stim m t e. Barbara hatte ihren Sohn geliebt, aber sie hatte nie einen Zweifel an dem gelassen, was sie von ihm erwartete. Vielleicht hatten Rainer und er deswegen so sehr dazu geneigt, den Jungen zu verwöhnen.
W i e auch immer, dachte Dr. Gold m ann, es ist sinnlos, jetzt noch über das Vergangene nachzugrübeln. » W ie ste h en Sie eige n tlich zu den Nachrichten aus Rußland, Kät h e ? « erkundigte er sich, be m üht, das Th e m a zu wechseln, und bereit, dafür sogar eine politische Diskussion m it ihr anzufangen. »Ich m ag ja nic h t so gut in f or m iert s e in wie Sie, ab e r soweit i c h weiß, kriti s ie r t Trotz k i Stalins W irtscha f tsprogramm und die zuneh m ende Bürokratisierung im m er heftiger. Das wollte ich Sie sch o n immer fragen«, fuhr er in einem leicht neckenden Tonfall fort, »auf wessen Seite ste h en Sie ei g entlich? S talin oder Trotzki? Abgeschlossene R e volution in einem Land oder per m anente Revolution in allen Ländern? Die s er Tage m uß es schwer sein, als Kommunist einer klaren Parteilinie zu folgen.«
»Lachen Sie nur. W enn wir hier s e it 1918 eine per m anente Revolution hätten, dann gäbe es solche Erscheinungen wie diese unsäglichen Natio n also z ialisten nicht, die Monarchisten wären längst ent m achtet, und die Fe m e morde hätten nie begangen werden können.«
Mit ihren erhitzten W angen und dem von der Brise etwas in Unordnung gebrachten Haar sah sie jünger aus, und einen Moment lang fragte sich Dr. Gold m a nn, was wohl geschehen wäre, wenn er sie früher kennengelernt hätte. Dann g i ng der Augenblick vorbei, und er entgegnete, immer noch neckend:
»Aber Sie wollen m i r doch nicht erzählen, daß die Bolschewisten keine politischen Morde begangen hätten. Ich bitte Sie.«
Natürlich, dachte Käthe, nun k a m wieder das Lieblingsargu m ent aller Bürgerlichen. »Bevor Sie s e nti m entale Klagen über d i e a r m e er m ordete Z aren f a m ilie anstim m en, darf ich S ie daran e rin ne rn, wie derselbe Zar vor dem W i nterpalast auf eine unbewaffnete Menge von Arbeitern, Frauen und Kindern schießen ließ, die nichts anderes wollten, als ihn um Hil f e bitten. Es ist im m er das gl e i che. J eder ist gerührt über tote Prinzessinnen, die ihr Leben in Luxus und Privilegien verbracht haben, aber die vie l en Toten, die auf das Gewissen der Fürsten gehen, die vergißt m an.«
»Ja, aber sehen Sie«, entgegnete Dr. Gold m ann ernst, ohne weiter den Versuch zu m ach e n, ihr Gespräch ins Heitere zu wenden, »ich finde, daß m an um beide trauern sollte. Um die toten Arb e it e rkind e r und die toten Prinzessinnen. Sie tun m i r unrecht, wenn Sie glauben, daß ich ein Leben als wertvoller als das andere betrachte, doch das gilt auch im u m gekehrt e n Fall. Deswegen bin ich Arzt.«
Sie blieb stehen und betrachtete i hn nachdenklich. Sie ordnete Martin Gold m ann nicht m ehr als oberflächlichen Lebe m ann ein, wie sie das zu Beginn ihrer Bekanntschaft m it ihm getan hatte, doch der Idealis m us, der in ihm steckte, war i h r bisher ent g an g en.
»Noch eine Revolution«, antwortete sie versöhnlich, »dann sehen nicht nur Sie jedes Leben als gleich w ertvoll an.«
Er lächelte. »Im
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