Unter den Linden Nummer Eins
wäre, sie hätten wenig damit anfangen können. Der Brief enthält weder einen konkreten Hinweis, wer ihn wo geschrieben hat, noch an wen er gerichtet ist. Im Grunde genommen besagt er nur: Jemand wird bei Gelegenheit mit jemandem Kontakt aufnehmen. Lassen wir uns also überraschen!«
Vera inspizierte den Inhalt ihres Reisekoffers. »Ob da auch so ein Sauwetter herrscht?«
»Kopenhagen ist nicht unbedingt für seinen Märzsonnenschein berühmt, meine Teuerste. Es dürfte ähnlich sein wie hier.«
»Also wetterfeste Klamotten mitnehmen – soweit vorhanden!« Vera öffnete den Kleiderschrank. »Karlchen, kann ich deinen dicken Pulli haben? Die Hotelzimmer in Frankreich waren oft nicht richtig geheizt. Das wird in Dänemark kaum anders sein.«
»Nimm mit, was du willst.« Karl schaltete das Radio ein. Der Deutschlandfunk meldete eine dichte Wolkendecke über Mitteleuropa und Sturmflutwarnungen für die Nordseeküsten. »Ein Gutes hat ja dieses Mistwetter. Wenn es so bleibt, kommen die Tommys nicht.«
Vera deckte das Bett auf. »Dann packe ich erst morgen früh zu Ende, Karlchen.«
8.
E INE Ü BERRASCHUNG AN DER R EZEPTION UND NACHMITTÄGLICHER B ESUCH IN DER F LORASTRASSE
Pleschke, der Doorman, hatte aus Norwegen geschrieben. Karl hatte den Ersten Portier des Adlon auf weitaus älter geschätzt. Nachdem Pleschke sich mit den Worten »Jetzt bin ich fällig!« von ihm verabschiedet hatte, war Karl in die Buchhaltung gegangen. Fräulein Schulte hatte die Personalakte auf dem Schreibtisch gehabt. »Herr Pleschke ist Jahrgang 01. Herr Obier wird uns ebenfalls verlassen.«
Karl nickte. Oskar rechnete täglich mit seiner Einberufung.
Pleschke zog ein gutes Los. Er wurde Etappenhengst bei der Marineverwaltung in Oslo. »Mein Aufgabenbereich ist ungeheuer wichtig. Ich bereite den Endsieg vor, indem ich wollene Unterhosen kontingentiere.« Der Brief war nicht durch die Militärzensur gegangen. Ein Kamerad auf Heimaturlaub hatte ihn bei Klempert abgegeben.
Anstelle von Pleschke stand jetzt einer der alten Kellner an der Stahltür. »Guten Morgen, Herr Meunier.«
»Morgen, Edmund. Und gut insofern, als daß der Nebel immer dichter wird.«
Edmund trat zur Seite. In der Vorhalle stapelten sich Koffer. »Die italienischen Journalisten reisen heim. Sie werden durch neue Berichterstatter ersetzt.«
Bernardo Mattezze hockte auf einer Reisetasche und knabberte Nägel. »Er kann es kaum erwarten«, flüsterte Edmund. »Fragt alle zwei Sekunden, wann denn endlich der Wagen kommt.«
»Signore Mattezze!« sagte Karl und strahlte den Italiener an. »Sie wollen uns verlassen? Ein Jammer! Aus sicherer Quelle habe ich erfahren, daß unsere neuen, hypermodernen Jäger in den nächsten Stunden über der Reichshauptstadt den amerikanischen Fernbombern eine Lektion erteilen werden, die sich gewaschen hat! – Und Sie wollen dieses kriegsentscheidende Ereignis verpassen! – Aber vielleicht haben Sie fortune und sind direkt vor Ort für eine zündende Reportage, sozusagen in aero . Sie fliegen doch in Kürze ab Tempelhof, nicht wahr? – Natürlich nur, wenn der Nebel sich lichtet!«
Mattezze antwortete nicht, kaute intensiver Nägel.
»Stimmt das mit den Jägern?« flüsterte der Portier.
»Bei dem Wetter?« sagte Karl.
Als er aus der Drehtür trat, traute er seinen Augen nicht. Kassner stand hinter der Rezeption!
»Der Tag beginnt ja ausgezeichnet! Sie ?«
»Guten Morgen, Herr Meunier!« Kassner grinste. »Die Freude ist ganz meinerseits. – Der Herr Generaldirektor wünscht Sie übrigens zu sprechen.«
»Ich kann erraten, was Sie fragen wollen, Meunier.« Louis Adlon setzte die Brille ab und rieb sich die Augen. »Aber ich konnte mich nicht wehren. Randhuber hat alle Hebel in Bewegung gesetzt. Wer im Kaiserhof nicht kv . war, ist jetzt bei uns untergekommen. Der Herr Reichsaußenminister hatte sich schon neulich wegen unseres reduzierten Personalbestands kritisch geäußert.«
Karl stützte sich mit den Handflächen auf den Schreibtisch. »Da ist Ärger vorprogrammiert. Ich weiß aus sicherer Quelle, daß Kassner im Kaiserhof wieder mit seinen krummen Geschäften angefangen hatte. Jegliche trinkbare Form von Alkohol erzielt auf dem schwarzen Markt Höchstpreise. Wenn Herr Obier eingezogen wird, fürchte ich um unsere Kellerbestände.«
»Ich habe dem gleich einen Riegel vorgeschoben, Meunier. Die Hausmitteilung finden Sie in Ihrem Fach. Diebstahl an Lebensmitteln oder Getränken im Adlon ist ab sofort gleichzusetzen mit
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