Unter den Linden Nummer Eins
Straße war eine Sackgasse zur Spree hin. Er wendete, fuhr an den beiden Wachenden vorbei und parkte hinter einer Biegung der Ziegelsteinmauer. An die Mauer waren Baumaterialien geschüttet. Kies und Sand. Karl kletterte auf den Kieshaufen und betastete mit gestreckten Armen die Mauerkrone, ertastete keinen Stacheldraht oder einzementierte Glasscherben. Er beschloß, einen Klimmzug zu wagen. Die Hände fanden ausreichend Halt, ein ausgebrochener Mauerstein diente als Steigbügel. Karl spannte die Muskeln an, zentimeterweise schob sich sein Kopf über die Mauerkrone. Parallel, mit etwa drei, vier Metern Abstand zur Mauer, stand eine einstöckige Holzbaracke inmitten von Koks- und Kohlenhalden. Ein greller Scheinwerfer unterhalb der Mauerkrone bestrahlte den Weg zwischen Mauer und Baracke.
Karl schaute geradewegs in ein gardinenloses Fenster. Der Raum im Obergeschoß der Baracke war hell erleuchtet. Durch die Scheiben drang Stimmengemurmel.
Ein Mann mit einer über den linken Jackettärmel gestreiften Hakenkreuzbinde saß dem Fenster gegenüber. Sein Gesicht, und auch das seines Tischnachbarn, konnte Karl nicht erkennen, weil der breite Rücken eines Glatzköpfigen sie verdeckte. Der Glatzköpfige konnte Kassner sein.
Der Mann erhob sein Glas – es war eine Champagnerflöte – und toastete dem Tischnachbarn zu und schaute, als der Glatzköpfige zur Seite rutschte, in Richtung Mauer.
Es erschien Karl, als würde ihm Baron de Neva direkt in die Augen starren.
Vor Schreck ließ Karl sich augenblicklich fallen und landete auf allen vieren. Er verharrte reglos, ob das Fenster geöffnet wurde, bereit, zum Wagen zu rennen und Fersengeld zu geben. Er wartete noch ein paar lange Sekunden, aber nichts tat sich. ›Ruhig!‹ zwang sich Karl. ›Er kann mich gar nicht gesehen haben!‹
Die Hoflampe beschien den Weg zwischen Baracke und Mauer. Die Mauerkrone selbst lag im Schatten. Karl holte tief Luft, wagte einen erneuten Klimmzug und sah nun auch, wem de Neva zugeprostet hatte.
So wurde Karl Augenzeuge, wie Dr. Joseph Goebbels, Gauleiter des Braunauer Anstreichers in Berlin, mit Baron de Neva, Sproß aus einem uralten maltesischen Adelsgeschlecht, Brüderschaft trank. Der Glatzköpfige, es war Kassner, applaudierte.
Karl sprang vorsichtig ab. Er fuhr sofort ins Adlon und schaffte die Strecke in Rekordzeit.
Schlag Mitternacht betrat Karl das Hotel durch den Wirtschaftseingang Wilhelmstraße. Den Opel hatte er auf demselben Platz gegenüber der Weinhandlung abgestellt, wo er ihn vorgefunden hatte.
Oberpage Mandelbaum arbeitete im Kuriersaal die Dienstanweisungen für den nächsten Tag aus. »Du, so spät?«
»Gut, daß ich dich noch antreffe, Erwin. Ich kann dich als Zeugen gebrauchen.«
Mandelbaum setzte seine Lesebrille ab und polierte sie mit einem Taschentuch. »Dann schieß mal los, Karl!«
»Es geht um eine außerplanmäßige Kontrolle. – Auf Anordnung von L. A.«
»Kassner?« fragte der Oberpage.
Karl sagte nichts, sondern erbrach das Siegel des Wandschränkchens, in dem der Generalschlüssel hing. »Komm, wir müssen in den Weinkeller.«
»Kassner?« fragte Mandelbaum erneut.
Karl biß die Zähne zusammen und nickte.
»Wundert mich nicht besonders«, sagte der Oberpage. »Obier ist doch weg zu einer Weinprobe, oder?«
»In Bremen«, sagte Karl und nahm den Generalschlüssel vom Haken.
»Tja«, sagte Mandelbaum, »ist die Katze aus dem Haus …«
»Weißt du mehr?«
»Nur, daß der Bursche schlechten Umgang hat.« Mandelbaum legte seine Brille in ein Blechetui und steckte es in die Hosentasche.
»Das kann ich allerdings bestätigen«, knurrte Karl.
In der Küche befanden sich nur noch der Allein-Koch und eine Küchenhilfe, falls einer von den Gästen um drei Uhr früh das Bedürfnis nach einem gebratenen Kapaun oder pochiertem Lachs verspüren sollte. Koch und Gehilfe entschuppten, über ein Spülbecken gebeugt, einen riesigen Fisch. Sie hatten keine Augen für die beiden Männer, die die Kellertreppe neben der Küchenchefkabine hinabstiegen.
Im Weinkeller war niemand mehr. Die Tür des Raums, in dem Obier residierte, war zweimal abgeschlossen, aber auch hier tat der Generalschlüssel seine Dienste. Karl blickte sich im Büro des Kellermeisters um. »Hast du eine Ahnung, wohin er die Belege vom Abend meistens legt?«
Mandelbaum zuckte mit den Achseln. »Vermute doch mal ganz stark, in seinen Schreibtisch.«
Karl und der Oberpage fanden das Bon-Buch in der obersten Schreibtischschublade. Zum
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