Unter den Linden Nummer Eins
Ich beabsichtige in Kürze für ein paar Leute aus Hitlers Umgebung eine Gesellschaft hier im Adlon zu geben. Es soll ein origineller Abend werden. Mit kleinem Programm im Wintergarten.«
»Woran haben Sie gedacht?«
»An Musik und leichte Unterhaltung. Vielleicht etwas Jazz, und – na, was die guten Nachtklubs in Berlin so bieten. Varieté. Von allem ein bißchen.«
›Will er mich auf die Probe stellen? Hat er mich auch im Oriental bemerkt?‹ Karl sagte mit Bedauern in der Stimme: »Jazz können Sie vergessen. Jazz ist undeutsch und dekadente Negermusik.«
»Hm, als ich neulich bei – na, ist ja egal, bei wem, jedenfalls war es ein höherer NSDAP-Funktionär, zu Gast war, wurde nur Negermusik gespielt.«
»War es ein offizielles Treffen?«
»Nein, der Mann hatte mich privat bei sich zu Hause eingeladen.«
»Dann«, sagte Karl, »erklärt das die Sache.«
»Die da wäre?«
»Nun, Herr Direktor. Sie werden dieses Phänomen häufiger in Deutschland antreffen. Gewisse Leute leisten sich der Bequemlichkeit halber gleich zwei Weltanschauungen. Ihr Gastgeber hat vermutlich eine Moral oder Philosophie, die er für die Partei reserviert, und eine für das Leben nach Feierabend, respektive Büroschluß. Das ist dann seine private Weltanschauung, mit der er bei Bedarf, wie in Ihrem Fall, zeigen kann, daß er die Parteipropaganda nicht als Evangelium betrachtet. Wohlgemerkt, diese Weltanschauung ist nur innerhalb seiner vier Wände gültig. Verläßt er die, ist Negermusik wieder verdammenswürdig und entartet.«
Holtsen bedachte Karl mit einem eindringlichen Blick. »Ich glaube, ich habe Sie verstanden. Wir lassen das also besser mit dem Jazz.«
›Achtung, Karl, krieg raus, was er im Schilde führt!‹ Karl räusperte sich. »Haben Sie übrigens schon Herrn Kassner von der Rezeption konsultiert? Er soll die allerbesten Kontakte zur Berliner Künstlerwelt besitzen.«
»Kassner?« Holtsen machte ein Gesicht, als müßte er jemandem kondolieren. »Es bleibt unter uns, Herr Meunier. Ihr Kollege hat seine erklärten Vorzüge, ja, ich gehe sogar so weit zu sagen, seine Dienste sind für mich von nicht geringer Bedeutung, aber Kunstverständnis geht ihm völlig ab. – Also: Ich war gestern mit ihm in einer bekannten Nachtbar mit ausgezeichnetem Programm und bin felsenfest davon überzeugt, daß er sich den ganzen Abend unendlich gelangweilt hat.«
»Darf ich fragen, wo Sie waren?«
»Natürlich. Wir waren im Oriental . Kennen Sie es?«
»So ein Zufall!« sagte Karl. »Ich war gestern mit einer Bekannten auch dort.«
»Na so was! – Wo haben Sie denn gesessen? Ich habe Sie nicht gesehen bei der dezenten Beleuchtung.«
»Wenn man in den Saal kommt, ganz links in der ersten Reihe vor der Bühne.«
»Wir hatten einen Wandtisch. – Wie fanden Sie das Programm?«
»Es hatte durchaus Niveau.«
»Das meine ich auch«, sagte Holtsen. »Niveau. Genau, das ist das Motto: Ich möchte für meine kleine Feierlichkeit ein niveauvolles Programm .«
Karl fühlte sich erleichtert. ›Kann sein, daß er sich bloß meisterhaft verstellt, aber ich glaube, er scheint tatsächlich nur meine Hilfe zu wollen.‹
Karl gab sich den Anschein, als würde er angestrengt überlegen. Dann sagte er: »Wann soll …?«
»In zirka zwei Wochen. An einem Freitag oder Samstag.«
Karl legte seinen gestreckten Zeigefinger seitlich an die Nase und nickte bedeutungsvoll. »Ich meine, das ließe sich zu Ihrer Zufriedenheit arrangieren. Geben Sie mir bitte ein paar Tage Zeit.«
»Es eilt ja nicht«, sagte Holtsen. »Sagen Sie mir oder Tron-Herman Bescheid, wenn Sie etwas Konkreteres wissen.«
Der Geldschein, den Holtsen Karl zusteckte, machte den Gegenwert eines halben Monatsgehalts aus.
22.
H AJO FLIEGT FÜR D EUTSCHLAND
Aus Holtsens Feierlichkeit wurde nichts. Die politischen Ereignisse überstürzten sich. Hitler war durch Ernennung zum Regierungsrat bei der braunschweigischen Gesandtschaft in Berlin deutscher Staatsbürger geworden, um bei der Reichspräsidentenwahl kandidieren zu können. Hindenburg verfehlte am 13. März 1932 die notwendige Mehrheit knapp, ein zweiter Wahlgang war nötig. Hitler unterlag Hindenburg am 13. April, war aber in der Lage, noch mehr Wählerstimmen auf sich zu ziehen. Karls Hoffnung, daß Wahlen dem Nazispuk ein Ende machen würden, zerstoben endgültig bei den Landtagswahlen am 24. April. Die NSDAP wurde in Preußen stärkste Partei. Die ewigen Optimisten richteten ihre Hoffnung auf die Reichstagswahl im
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