Unter den Linden Nummer Eins
dann hatte Karl gesprochen. Ihre auf zwei kurze Stunden komprimierten Lebensgeschichten hatten sie sich erzählt, bis sie eingeschlafen waren.
In der Küche wurde jetzt geräuschvoll mit Pfannen und Schüsseln hantiert. Karl drehte sich wohlig auf die Seite und betrachtete den Spalt in der Küchentür, durch den die anheimelnden Geräusche und ein verlockender Kaffeeduft drangen.
»Vera?«
»Raus aus den Federn, du Faultier!«
Was sie aus ein paar Eiern, einer Scheibe magerem Speck, Milch, Zucker, Mehl sowie diversen Käse- und Wurstecken zum Frühstück zubereitete, grenzte für Karl an Hexerei: Käsepfannkuchen, dünn und knusprig, Pfannkuchen mit krossen Speckstreifen, süße gerollte Teigfladen mit Apfelstückchen. ( Apfel? – Hat sie einen in ihrer Handtasche gehabt? ) Geheizt hatte sie auch. Die Eisenplatte auf der Kochmaschine glühte.
»Wenn nix da ist, muß man halt aus nix was machen. Mit fünf Geschwistern groß geworden zu sein war eine harte, aber sehr lehrsame Schule, mein Herr Muttersöhnchen. Das Geld hat bei uns hinten und vorne nicht gereicht. Da wird man erfinderisch – oder man verhungert.«
Karl protestierte nur schwach, denn er fühlte, daß sie nicht ganz unrecht hatte. Natürlich war er als Einzelkind begünstigt aufgewachsen. Bloß das Muttersöhnchen mochte er nicht auf sich sitzenlassen. Die Erziehung war preußisch-nüchtern gewesen. Sicher, im Elternhaus war der Tisch, verglichen mit der einer vielköpfigen Arbeiterfamilie, immer reichlich gedeckt gewesen. Luxus im eigentlichen Sinne hatte indes nie geherrscht. Man lebte sparsam ohne Zwang, und nach Kriegsende mußte auch bei den Meuniers der Gürtel enger geschnallt werden – Gold hatte der patriotische Vater für Eisen genagelt. Das Vermögen von Karls Eltern bestand 1918 aus einem dicken Bündel Kriegsanleihen, die gerade mal noch zum Feueranmachen taugten.
»Was hast du an den Apfelröllchen dran?«
»Ich habe eine Zimtstange gefunden.«
»Die muß noch vom Vormieter stammen«, murmelte Karl.
Vera trug eins von seinen Oberhemden und hatte eine Krawatte als Gürtel umgeschlungen. Karl beugte sich über den Küchentisch und gab ihr einen Kuß. »Kannst öfter kommen, Mädel!«
»Nur wenn du vorher abgewaschen hast.«
»Versprochen!«
»Versprechen ist zu wenig. Schwör! – Und hör auf zu grabbeln. Also? Den Schwur, bitte!«
Karl lehnte sich zurück und spreizte die Schwurfinger. »Ich gebe dir mein großes ungarisches Ehrenwort, daß ich fortan …«
»Stopp, Onkelchen! Ungarisches Ehrenwort, und dazu noch ein großes, das klingt mir nicht sonderlich vertrauenswürdig. – Schwör doch einfach und altmodisch bei allem, was dir heilig ist.«
»Gut«, sagte Karl. »Ich schwör bei meiner mir bis dato unbekannten und reizenden Nichte Vera. – Nun zufrieden?« Karl beugte sich über den Tisch. »Darf ich jetzt wieder grabbeln?«
Vera klopfte ihm auf die Finger. »Erst brav aufessen!« Während er das letzte Apfelröllchen verspeiste, öffnete sie den obersten Hemdknopf. »Sonst gibt es heute kein Schönwetter.« Das Hemd rutschte über die Schultern, als sie einen weiteren Knopf öffnete. »Und auch keinen Extranachtisch.«
Viel Liebe macht viel Hunger. Zum Mittagessen gingen sie ins Continental Hotel gegenüber vom Bahnhof Friedrichstraße. Das Hotel gehörte ebenfalls Louis Adlon und hatte einen ausgezeichneten und relativ preiswerten Mittagstisch. Gemüsesuppe mit Eierstich für beide, Rinderbraten mit Klößen für Vera, eine Forelle Blau für Karl. Auf Karls Teller waren zwei Kartoffeln verblieben.
»Magst du die nicht mehr?«
»Bin pappsatt.«
»Ich nicht, Onkelchen, ich bin noch jung und im Aufbau. Gestatten?« Vera angelte sich die Kartoffeln und tunkte damit den letzten Saucenrest auf. »Uff! Das war gut, jetzt noch das Eis, und ich bin rundum zufrieden.«
»Ich opfere dir gerne auch meine Portion – damit der Aufbau nicht gefährdet wird. Wär doch jammerschade, wenn Fräulein Vera vom Fleische fallen würde – von wegen Grabbeln.« Das Eis kam. Karl bestellte Kaffee und zündete sich eine Muratti an. »Stört es dich?«
»Nur zu! Ich beschäftige mich derweil anders. – Danke!« Vera griff nach Karls Eisschale. »Sag mal, Karl, du hattest was von Umzug gemurmelt. Wo willst du denn hinziehen?«
Es stellte sich heraus, daß Vera ganz in der Nähe von Karls zukünftiger Wohnung lebte, wenn die Venduras ein Engagement in Berlin hatten. In der Nähe und doch durch mehr als ein paar Straßenzüge
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