Unter den Linden Nummer Eins
Etablissements.«
Mit Karls Beherrschung ging es zu Ende. Er gab dem Schrank einen Tritt. »Diese alte Drecksau, ich mach ihn fertig!« Er stürmte davon. Vor dem Kuriersaal zwang er sich, nicht lauthals zu fluchen. ›Tief durchatmen, Karl!‹ Er verlangsamte seine Schritte. An den Wänden hingen mannshohe Spiegel. ›Ruhig, ganz ruhig. Erst nachdenken.‹ In einer Gangbiegung begegnete ihm sein Spiegelbild. Karl blieb stehen und betrachtete sich. ›Ruhig, Karl. Lauf nicht ins offene Messer. Denk nach!‹ Er entkrampfte die Fäuste. Langsam wich das Blut aus seinem Gesicht. ›Zahl es ihm heim. Aber mit Stil!‹ Karl machte kehrt und begab sich ins Kellergeschoß. Kellermeister Obier verkostete neu angelieferte Faßweine. Wortlos reichte er Karl ein Glas.
Karl probierte einen Schluck und nickte anerkennend. Es war ein frischer Weißwein. »Italiener?«
»Gut, Karl. Ein Soave. Und jetzt den hier.«
Karl bekam ein neues Glas.
»Auch, bloß – jünger?«
»Nein, aber hätte gut sein können. Und jung war richtig getippt. Sogar sehr jung. Vino Verde. Ein Portugiese. – Was kann ich für dich tun?« Er entkorkte eine bauchige Chiantiflasche.
Karl ließ Obiers Frage unbeantwortet, denn der neue Kellerassistent betrat das Büro. »Chef! – Wohin mit den leeren Portweinkisten?«
»Der Importeur nimmt sie bei der nächsten Fuhre wieder mit. Am besten stellen Sie sie zu den Fässern, Fretzel!«
»Wird erledigt, Chef.« Er verließ das Büro. Karl folgte ihm und vergewisserte sich, daß die Tür richtig zu war.
Obier zog den Korken heraus, beschnüffelte ihn und steckte ihn wieder in die Flasche. »Der ist gekippt. Schwund.«
Karl zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf die Bürotür. »Und der?«
Obier stellte die Flasche neben den Schreibtisch in eine Kiste mit der Aufschrift Reklamieren! »Mein neuer Assi? Bist du seinetwegen hier?«
Karl nickte. »Erwin will was gesehen haben.«
»Erwin hat richtig gesehen. Wenn du mich fragst, hat die allergnädigste Frau Generaldirektor den Bock zum Gärtner gemacht.«
»Kann es sein«, sagte Karl, »daß junge Männer mit der richtigen Frisur und der richtigen Art zu schleimen bei ihr einen Stein im Brett haben?«
»Vieles kann sein in diesem Haus, mein Lieber.«
»Ich rede mit L. A.«, sagte Karl. »Es war eine unkluge Entscheidung während seiner Abwesenheit. Sie wird nicht gewußt haben, daß er ein Gesinnungsgenosse von Kassner ist.«
»Möglich. – Fretzel ist jedenfalls geschickter als Kassner. Ich bin erst heute dahintergekommen, wie er es angestellt hat.«
»Kein Wunder«, sagte Karl. »Er hat immerhin Großhandelskaufmann gelernt.«
Im Kurierzimmer war niemand mehr. Karl schlug das Notizbuch auf, setzte sich auf Mandelbaums Platz und ließ sich von der Zentrale mit dem Oriental verbinden. Nach einem kurzen Gespräch mit Benno wählte er auf dem Hausapparat die Nummer von Louis Adlon.
»Mein Mann ist noch in Neufahrland. Worum geht’s, Herr Meunier?« Mit Hedda Adlon zu sprechen wäre verlorene Zeit gewesen. Karl sagte schnell: »Lediglich meine tägliche Routinefrage, ob der Herr Generaldirektor – oder natürlich auch die Frau Generaldirektor – für heute besondere Anweisungen haben.«
»Mir sind keine bekannt. Sonst noch was?« Hedda erwartete keine Antwort. Sie legte auf.
Karl seufzte und steckte sein Notizbuch ein. Wenn es stimmte, was Mandelbaum beobachtet hatte, war der Generaldirektor wieder um drei Kisten besten Champagners ärmer.
21.
H OLTSEN PLANT EINE F ESTLICHKEIT
»Herr Meunier, Sie sind doch Berliner und kennen sich aus!« Per Wilhelm Holtsen hatte Karl in der Halle angesprochen.
»Sogar ein waschechter.«
»Waschecht?« Holtsen sprach sehr gut Deutsch, aber bisweilen war ihm ein umgangssprachlicher Ausdruck nicht geläufig. »Das muß ich mir merken. – Ich bin dementsprechend also ein waschfalscher Berliner.«
»Nennen Sie sich lieber einen Wahlberliner, Herr Direktor«, sagte Karl. »Oder einen Neu-Berliner.«
»Wahlberliner gefällt mir besser. – Apropos Wahlen, Herr Meunier. Wie sehen Ihre Prognosen aus? Schafft es Hitler?« Zwei flinke Frettchenaugen fixierten Karl.
›Was ist los? Will er dich testen?‹ Karl runzelte die Augenbrauen. »Tjaa … Möglich wäre es. Aber ich glaube, die Nationalsozialisten werden die Macht verfehlen, wenn Sie mich um meine ganz private Meinung fragen.«
Holtsen atmete schwer durch die Nasenlöcher aus. »Ich sehe das ähnlich. Trotzdem möchte ich Sie um einen Gefallen bitten.
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