Unter den Sternen von Rio
Schleier. Außerdem hatten sie beim besten Schuhmacher Rios ein Paar sündhaft teure Brautschuhe, ebenfalls aus Seide, in Auftrag gegeben, die Ana Carolinas schmale Füße vorteilhaft zur Geltung bringen würden. Immerhin. Das war ja der einzige Vorteil bei diesen kurzen Kleidern, dachte Dona Vitória, dass man, anders als in ihrer eigenen Jugend, hübsche Füße und Beine endlich herzeigen konnte.
»Findest du es nicht ein bisschen zu lang?«, fragte ihre Tochter jetzt und drehte sich vor dem Spiegel des Modeateliers. »Heutzutage bedecken die Kleider ja nur noch die Knie, und dieses hier reicht fast bis zu den Knöcheln.«
»Es reicht nicht fast bis zu den Knöcheln, Liebes. Es ist wadenlang. Und das ist gerade kurz genug. Wir gehen darin ja nicht in einen Nachtclub, sondern in die Kirche.«
»
Ich
gehe darin in die Kirche«, verbesserte Ana Carolina ihre Mutter. »Also muss
ich
mich auch darin wohl fühlen, nicht du.«
»Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben dürfte«, flüsterte die Schneiderin, Senhorita Hortense. Sie war ein verhuschtes Ding in mittleren Jahren, farblos und völlig mittelmäßig. Nur in einer Sache brillierte sie, nämlich als Schneiderin von Brautmoden.
»Was täten Sie dann?«, konnte Dona Vitória sich nicht verkneifen zu sagen.
»Herrgott,
mãe,
sei doch nicht immer so garstig«, ging Ana Carolina dazwischen. An die Schneiderin gewandt, sagte sie: »Natürlich, Senhorita Hortense, bitte sagen Sie uns, was Sie denken.«
»Ich finde, dass es vielleicht, aber bitte nehmen Sie es nicht persönlich, dass es also eventuell von Vorteil wäre, den Saum um ein bis zwei Zentimeter herauszulassen.«
»Da hörst du es!«, rief Dona Vitória triumphierend.
»Es ist ja nur, weil …«, stotterte die eingeschüchterte Schneiderin weiter, »… äh, weil die Waden des werten Fräuleins sehr muskulös sind, und da wäre es nicht gut, das Kleid genau an der, äh, umfangreichsten Stelle enden zu lassen. Obwohl Sie natürlich recht haben«, sagte die arme Frau zu Ana Carolina, »dass die Mode heute auch kürzere Kleider zulässt. Aber in diesem Fall …«
Ana Carolina glotzte sie entgeistert an, bevor sie sich selber kritisch im Spiegel musterte. Doch sie fand an ihren Beinen nichts auszusetzen.
»Du hast dicke Waden, Schatz, das will sie damit sagen«, erklärte Dona Vitória. Die Häme in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Sie sind nicht dick. Ich habe nur keine Stöckerbeinchen, wie sie anscheinend gerade
en vogue
sind, weil ich in letzter Zeit sehr viel Tennis gespielt habe.«
»Ich wollte keineswegs Ihr Aussehen kritisieren«, sagte die Schneiderin entschuldigend, »ich finde Sie sogar sehr schön. Auch Ihre Beine.« Nun lief sie rot an – es schien ihr doch ein wenig gewagt, einer Kundin Komplimente über ihre Beine zu machen.
Das arme Ding, dachte Dona Vitória bei sich, da beriet sie nun die schönsten und reichsten Bräute der Stadt, wenn nicht gar des Landes, und war selber unverheiratet. Ob sie in ihrem schon etwas reiferen Alter, mit ihrer prüden Art und dem abschreckenden Namen noch einen Ehemann finden würde, war ziemlich fraglich.
»Also ist es beschlossen, dass das Kleid nun doch länger wird als ursprünglich geplant?«, fragte Dona Vitória ungeduldig.
»Ja, von mir aus«, gab ihre Tochter nach. »Aber vielleicht könnte man ja nicht den Saum herauslassen, sondern, um es ein wenig lockerer wirken zu lassen, eine Bordüre mit Spitze oder, noch besser, mit Fransen unten anbringen?«
»Das ist eine wunderbare Idee«, lächelte die Schneiderin zurückhaltend.
Es wurde noch ein wenig gezupft und abgesteckt, bis die Braut und ihre Mutter endlich das Schneideratelier verließen.
Senhorita Hortense, die in einem früheren Leben mehreren Männern das Herz gebrochen und zwei Ehemänner überlebt hatte, rieb sich die Hände. Die Nummer mit dem keuschen Fräulein zog immer. Die Änderung des Kleides würde den Preis desselben weiter in die Höhe treiben, und die Kundinnen würden sie wegen ihrer »verständnisvollen, zartfühlenden Art« an andere Damen der gehobenen Gesellschaft weiterempfehlen. Ha.
Auf dem Rückweg nach Hause erlaubte Dona Vitória ihrer Tochter zu fahren. Eigentlich saß immer Ana Carolina am Steuer, wenn sie gemeinsam mit dem Wagen unterwegs waren. Ihre Mutter sah nicht gut, und sie war auch nicht allzu erpicht aufs Fahren, denn Technik und Motoren machten ihr insgeheim ein wenig Angst. Dennoch sagte sie vor jeder Tour: »Liebes, möchtest du heute
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