Unter den Sternen von Rio
sehr wohl, danke. Oder zumindest habe ich mich bis vor kurzem noch wohl gefühlt.«
»Oh, dann, ähm, sollte ich jetzt vielleicht lieber wieder gehen?«, stammelte Henrique.
»Fragst du dich das, oder fragst du mich?«
»Schatz, warum bist du denn heute so unleidig? Ist etwas passiert, das dir die Laune verdorben hat?«, fragte er. In seiner Stimme lag aufrichtige Sorge.
Auf einmal schämte sich Ana Carolina. Henrique war nicht der Grund für ihre Gereiztheit.
»Ach, nichts Besonderes. Ich kann es mir auch nicht erklären. Bitte entschuldige.«
»Bestimmt ist es die Aufregung vor der Hochzeit.«
»Ja, das wird es sein«, stimmte sie zu.
»Das passiert vielen Brautleuten, Männern wie Frauen. Kurz vor dem entscheidenden Tag, der ihr Leben für immer verändern wird, bekommen es viele Menschen mit der Angst. Sie fragen sich, ob sie diese Entscheidung, die ja von so immenser Tragweite ist, auch wohldurchdacht haben.«
»Hast du denn auch Angst?«, fragte sie. Seine Erklärung klang so durchdacht, sie war so ausformuliert, dass er sie unmöglich gerade eben erst gefunden haben konnte. Es hörte sich vielmehr danach an, als hätte er den Gedanken schon länger mit sich herumgetragen.
»Nein. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass du die Richtige bist. Ich glaube nur …« Er zögerte ein wenig zu lange.
»Ja?«
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, ohne dass du es missverstehst.«
»Sag es einfach.«
»Ich befürchte, dass du dir vielleicht nicht ganz sicher bist. Bei mir.« Er stand da wie versteinert und wirkte, als erwarte er sein Todesurteil aus ihrem Mund.
»Oh, Henrique, wie kannst du nur?«, rief sie und fiel ihm um den Hals. »Wie kommst du denn darauf? Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe.« Ana Carolina strich über sein Haar, wie man es bei einem Kind machen würde, das des Trostes bedurfte. Sie küsste seine Wangen, dann suchte ihr Mund seine Lippen. Er legte seine Arme um sie und zog sie näher an sich heran. Es lag so viel Zärtlichkeit in Henriques Kuss und in seiner Umarmung, dass Ana Carolina sich fragte, wie sie ihn je so schmählich hatte hintergehen können. Eng umschlungen standen sie eine Weile in der Halle, bis näher kommende Schritte sie dazu brachten, sich voneinander zu lösen.
Dona Vitória betrachtete das Paar, das sie betreten ansah, als hätte sie es bei etwas Verbotenem ertappt. Dabei war doch wirklich nichts dabei, wenn Verlobte, die schon in wenigen Wochen heiraten würden, sich küssten. Sie würden ein perfektes Ehepaar abgeben. Allein rein äußerlich: beide mit dem blassen Teint der Oberschicht, mit edlen Gesichtszügen und von schlanker Gestalt. Henrique mit seinem klassischen griechischen Profil war ein attraktiver Mann, wahrhaftig. In seinen Augen funkelte Intelligenz, seine vollen Lippen zeugten von Sensibilität. Und ihre Tochter? Sie erschien ihr in diesem Augenblick schöner denn je mit ihren leicht geröteten Wangen und einem mädchenhaft unschuldigen Blick in den Augen. Sie waren rührend, die beiden. Und sie würden einander ideal ergänzen.
Dona Vitória grüßte Henrique kurz, dann ging sie weiter. Sie musste etwas mit León besprechen.
Sie fand ihn an seinem Schreibtisch vor, Zeitung lesend.
»Hast du sie eingeladen?«, kam sie ohne Einleitung zur Sache.
»Vita,
meu amor!
«, sagte er in übertrieben gespielter freudiger Überraschung. »Wie schön, dass ich dich auch einmal zu Gesicht bekomme. Du bist in der letzten Zeit doch sehr viel aushäusig gewesen, und ich …«
»Hast du oder hast du nicht? Und wage es bloß nicht zu fragen, wen ich meine. Du weißt es genau.«
»Ach, Sinhazinha, du kennst mich einfach zu gut. Allerdings nicht gut genug, denn sonst würdest du eine solche Frage kaum stellen. Wann hätte ich mich je deinen Wünschen widersetzt?«
»Wenn du Dona Alma nicht eingeladen hast, wer war es dann?«
»Ich schätze, da käme nur unsere Tochter in Betracht. Aus Gründen, die sich mir nicht erschließen, findet sie deine Mutter ganz entzückend. Hast du Ana Carolina schon gefragt?«
»Nein, habe ich nicht. Himmel, León, wie kann sie nur?«
»Nun, meine Liebe, du weißt, dass ich dich ungern belehre. Aber es ist
ihre
Hochzeit, und es ist
ihre
Großmutter.«
»Ach, ich meine doch nicht Ana Carolina. Ich meine Dona Alma. Wie kann sie nur eine solche Reise antreten, wohl wissend, dass sie nicht in der körperlichen Verfassung ist, den Strapazen der Passage zu trotzen?«
»Und wohl wissend, dass sie hier nicht
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