Unter den Sternen von Rio
einzelnen Gewerken das Prozedere beim Einbau des Fahrstuhls durchzugehen, war in dieser Hinsicht eine der schlimmsten. Senhor Passos behandelte ihn wie einen Leibeigenen, nein, noch übler, wie einen entfernten Verwandten, der von seiner Mildtätigkeit abhängig war. Passos legte andauernd den Arm um Henriques Schultern, was er wohl für eine väterliche Geste hielt, nur um ihm dabei die ganze Zeit nichts anderes zu sagen, als dass er ein Versager war. Es war unerträglich. Wäre Henrique nicht auf die Arbeit angewiesen, hätte er Senhor Passos schon längst die Meinung gesagt: dass die Verzögerungen allein seine, Passos’, Schuld waren, weil er ja immer alles besser wusste und sich in alles einmischte. Denn Henrique war beileibe nicht der einzige »Versager« auf der Baustelle. In Senhor Passos’ Augen waren sie allesamt Taugenichtse und Faulpelze und Nichtskönner, vom kleinsten Maurerlehrling bis zum federführenden Architekten.
Zu allem Überfluss hatte Passos ein paar der ranghöheren Leute zu seinem Geburtstag in einen Nachtclub eingeladen. Hatte der Mann keine Familie, hatte er keine Freunde? Musste er sich Geburtstagsgäste kaufen? Denn darauf lief es doch hinaus: Wenn der Gottvater der Baustelle seine Mannen einlud, ließ er keine Ausrede gelten. Es würde auch niemand wagen, ihm abzusagen – sie alle lebten schließlich nicht schlecht von den Extravaganzen, die Senhor Passos sich andauernd und immer zur Unzeit für seine Bauprojekte einfallen ließ. Neulich erst hatte er sich Messinggitter für die Geländer gewünscht – als die schmiedeeisernen schon längst eingebaut waren. Und wessen Schuld war das alles gewesen? Henriques natürlich.
Henrique hatte schon wieder Magenschmerzen. Es wurde höchste Zeit, dass das Gebäude fertig wurde und die Zusammenarbeit mit Senhor Passos endete, sonst würde er noch ein ernstzunehmendes Magengeschwür bekommen. Das Perfideste an der ganzen Sache war, dass Passos es nicht einmal böse meinte. Henrique glaubte sogar, dass sein Chef ihn mochte. Warum sonst hätte er ihn eingeladen? Passos gehörte einfach zu jenen Menschen, die sich selbst für den Nabel der Welt und alle anderen für Handlanger hielten. Der Mann glaubte, er allein wüsste, was gut für ihn und vor allem was gut für die anderen war. Bestimmt war er auch davon überzeugt, dass sich jeder glücklich schätzen durfte, der für ihn arbeitete.
Herrgott noch mal! Henrique hatte keine Lust, auch noch in seiner Freizeit mit diesem Tyrannen zusammen zu sein. Er sollte sich eine Ausrede einfallen lassen, um nicht zu dem blöden Geburtstag zu müssen. Vielleicht irgendetwas mit seiner Hochzeit? Bei dem Gedanken daran durchfuhr ihn wieder ein jäher Schmerz. Er setzte sich auf eine Bank, bis der Krampf vorüberging. Die Hochzeit – sie schlug ihm mindestens genauso auf den Magen wie seine Arbeit. Ana Carolina benahm sich so merkwürdig in letzter Zeit, dass ihm ganz mulmig zumute wurde. Ob sie es sich doch noch anders überlegt hatte? Und ob ihr Verhalten irgendetwas mit António zu tun hatte? Sie hatte behauptet, er habe ihr Avancen gemacht – aber war sie vielleicht sogar dafür empfänglich gewesen? Henrique war kein Dummkopf. Er wusste, dass António bei den Frauen gut ankam, und obwohl er kein eifersüchtiger Mann war, hielt er es durchaus für möglich, dass auch seine Verlobte dem Charme Antónios erliegen mochte.
Aber nein, die beiden kannten sich ja kaum. Und die einzige Gelegenheit, bei der sie sich hätten näherkommen können, war die Karnevalsnacht gewesen, als Marie und Maurice mit den beiden zusammen gefeiert hatten. Es war also nichts als ein Hirngespinst. Bestimmt ließ sich Ana Carolinas neuerdings etwas abweisende Art auf die Aufregung zurückführen. Er selber war ja ebenfalls ein wenig nervös.
Wenn nur nicht alle so ein Aufhebens um die Hochzeit machen würden! Ohne das ganze Drumherum wäre er vielleicht einigermaßen entspannt vor den Traualtar getreten. Aber der Zirkus, den Dona Vitória veranstaltete, brachte ihn ganz durcheinander. Sie schleppte ihn zum Schneider und wählte den Stoff für seinen Anzug aus. Sie ging mit ihm zum Hutmacher, um eine geeignete Kopfbedeckung auszuwählen, die er natürlich erst aufsetzen durfte, wenn er, als Ehemann Ana Carolinas, die Kirche wieder verließ. Sie redete ihm bei seinen Gästen rein, und sie nahm keinerlei Rücksicht auf seine Geschmacksvorlieben, so dass sie doch tatsächlich für das Festmahl Langusten ausgewählt hatte, auf die
Weitere Kostenlose Bücher