Unter den Sternen von Rio
überrascht.
Einen der zahlreichen Briefe Antónios hatte sie schließlich doch geöffnet, voller Hass auf sich selbst, weil sie so schwach war. Er hatte darin geschrieben, dass er von nun an täglich in dem Restaurant »A Vela« auf sie warten würde, und zwar zwischen 13 und 14 Uhr. Was hatte sie nur geritten, hierherzukommen? Es war doch klar, dass er, wenn tagelang nichts geschehen war, nicht länger mit ihrem Kommen rechnete und daher auch selber nicht täglich kam. Was war das überhaupt für eine blödsinnige Idee von ihm? Das Lokal lag nicht einmal in der Nähe seiner Wohnung, wo es als sein mittägliches Stammlokal in Frage gekommen wäre. Es war auch viel zu fein, um dort jeden Mittag zu speisen. Nun ja. Es war vielleicht besser so. Sie war sich dumm vorgekommen, als sie im Innern des Lokals nach ihm Ausschau gehalten hatte und dem Kellner hatte sagen müssen, dass sie mit jemandem verabredet war, aber lieber vor der Tür warten würde. Draußen hatte sie sich noch mehr fehl am Platz gefühlt. All die Angestellten, die in der Innenstadt arbeiteten, nahmen ihre Mittagspausen, und aufgrund des schönen Wetters herrschte reger Betrieb auf den Straßen und Plätzen. Die Leute lachten, belegten in Grüppchen die Tische, wirkten ausgelassen und heiter. Und sie? War so einsam wie nie zuvor.
António verfluchte das Telefon. Noch mehr aber verfluchte er sich selber. Gerade als er im Begriff gewesen war, seine Wohnung zu verlassen, hatte es geklingelt. Und er? Hatte natürlich abgehoben. Es war wie ein Zwang: Wenn das Telefon klingelte, musste man drangehen, ganz gleich, was man gerade tat. War das nicht hochgradig idiotisch? Musste er sich von so einem blöden Apparat diktieren lassen, wann er zu sprechen war und wann nicht? Unglücklicherweise war es dann auch noch ein Ferngespräch gewesen, auf das er bereits länger gewartet hatte. Seine Familie oder Freunde hätte er abwimmeln können, diesen Anrufer jedoch nicht. Als das Gespräch beendet war, war António losgehastet, um noch pünktlich zum »A Vela« zu kommen. Bei seinem Glück war Caro bestimmt ausgerechnet heute dort gewesen und hatte vergeblich auf ihn gewartet. Vielleicht war sie aber auch noch dort? Er sah auf die Uhr: Viertel vor zwei. Bis zwei konnte er es noch knapp schaffen.
Als er mit fünfminütiger Verspätung am Restaurant eintraf, war weit und breit keine Caro zu sehen. Vermutlich war sie auch an diesem Tag nicht erschienen.
21
D as Wetter im Herbst war ideal für Bauvorhaben jeglicher Art. Dennoch stagnierte das Christus-Projekt. Henrique empfand es als Schande, dass man jetzt im April, da es warm und trocken war und weder Erdrutsche noch schwere Gewitter die Arbeiten auf dem Berggipfel beeinträchtigten, nur Däumchen drehen konnte. Notgedrungen investierte er mehr Zeit in andere Baustellen, die ihm zwar nicht so viel Spaß machten, dafür aber lukrativer waren. Allein drei neue Gebäude in Copacabana wurden von ihm betreut, denn das Viertel im Süden der Stadt boomte. Die Cariocas hatten die Freuden des Strandlebens für sich entdeckt, und Copacabana war, wenn man die Guanabara-Bucht hinter sich ließ, der erste Stadtteil am offenen Meer.
Die Promenade am Strand war mit auffälligen Wellenlinien in Schwarz-Weiß gepflastert. Man hatte sowohl die Pflastersteine als auch die Handwerker eigens aus Portugal kommen lassen, um die mehrere Kilometer lange Strecke so zu gestalten, wie es einem modernen Vorzeigeviertel der Hauptstadt zustand. Dennoch wunderte Henrique sich jedes Mal, wenn er dort entlangging, über die Richtung der gepflasterten Wellen. Sie verliefen nicht parallel zu den hereinrollenden Wellen des Meeres, sondern senkrecht dazu. Was sollte das? Welcher »Künstler« war denn auf diese unsinnige Idee verfallen? Sah man jedoch von der falschen Richtung der Steinwellen ab, waren sie sehr schön. Henrique ging gern hier entlang, wenngleich die Brandung manchmal so stark war, dass die Gischt ihn nass spritzte.
Heute allerdings hatte er wenig Sinn für die Schönheit von Strand und Promenade. Er lief diese Strecke nur, um sich von der herrlich frischen Brise den Kopf freipusten zu lassen. Ein, zwei Kilometer Fußmarsch würden ihm guttun. Danach würde er in der Parallelstraße, der Avenida Nossa Senhora de Copacabana, die Straßenbahn nach Hause nehmen. Sein Auto war mit defekten Bremsen in der Werkstatt.
Es war schrecklich, wie manche Bauherren ihn vereinnahmten. Die Baustelle, auf der er heute gewesen war, um mit den
Weitere Kostenlose Bücher