Unter den Sternen von Rio
er allergisch reagierte. Es war der reinste Alptraum.
Henrique beglückwünschte sich nur, dass seine eigenen Eltern ganz anders waren. Die behandelten ihn wie einen Erwachsenen und traten ihm nicht mit milder Herablassung gegenüber, so wie Dona Vitória, sondern mit Respekt. Und das nicht erst, seit er der Haupternährer der Familie war. Seit er Einblick in die Welt der Reichen gewonnen hatte, bemitleidete er die Kinder dieser Leute nur noch. Sie wurden in jeder erdenklichen Weise gegängelt, und selbst als erwachsene Menschen waren sie nichts weiter als Marionetten in einer Aufführung, in der es allein um den schönen Schein ging. Der Ruf der Familie, das Vermögen der Familie, der Fortbestand der Familie, die Macht der Familie – das waren die Götzen, denen man zu dienen hatte. Echte Tugenden waren nicht erwünscht, solange sie einem dieser Götzen im Weg standen. Kein Wunder, dass die Oberschicht Rios so verlogen war, so bigott und so korrupt.
Und kein Wunder, dass seine eigene Familie verarmt war. Seine Eltern waren zu ehrlich, zu zurückhaltend und zu integer gewesen, um ihr Geld halten, geschweige denn mehren zu können. Und auch, leider, zu schwach. Sie ließen sich lieber von den gierigen Raubtieren auffressen, als selber Beute zu machen. Ihm selbst ging es ja ähnlich. Er hatte beobachtet, wie die Mehrzahl seiner Kommilitonen sich durchs Studium gemogelt und gekauft hatte, und er selber, der er immer brav studiert und nie einen Professor bestochen hatte, hatte nachher ein nicht ganz so glänzendes Examen wie manch anderer abgelegt, der dümmer war als er. Dennoch weigerte er sich bis heute, zu denselben fragwürdigen Mitteln zu greifen wie diejenigen, denen mehr Erfolg beschieden war. Henrique glaubte fest daran, dass Ehrlichkeit, Fleiß und Können auf lange Sicht belohnt wurden.
Nur mit Eigenverantwortlichkeit und Rechtschaffenheit erlangte man Unabhängigkeit. Darum würde er sich, sobald er verheiratet war, von seinen Schwiegereltern distanzieren. Als Brauteltern hatten sie das Recht und die Pflicht, die Hochzeit auszurichten, insofern würde er Dona Vitórias Bevormundungen wohl oder übel über sich ergehen lassen müssen. Aber danach würde er mit Ana Carolina in eine schöne Wohnung ziehen, möglichst weit entfernt von ihrem Elternhaus, in der allein er und seine Frau das Sagen hatten. Seine Frau! Schon das Wort löste eine kleine Gänsehaut bei ihm aus. Oh, herrliche Zeiten kamen auf ihn zu!
Ein Blick auf seine Taschenuhr sagte ihm, dass er weitermusste. Er hatte ohnehin schon zu viel Zeit vertrödelt, mit seinem Spaziergang und der kurzen Rast auf der Bank. Er musste noch in der Avenida Central vorbeischauen, wo er einen Ortstermin mit dem Leiter der Baubehörde hatte. Der Mann würde ebenfalls die Hand aufhalten, befürchtete Henrique, denn ohne sein Wohlwollen würden sie vorgeschriebene Abstände zu Gehweg und Straße einhalten müssen, die wiederum die Bauherrin – Dona Vitória – nicht einzuhalten bereit war.
An seiner Unabhängigkeit musste er doch noch ein wenig arbeiten.
Am Abend kam Henrique spät nach Hause. Er war schmutzig und müde. Es war anstrengend, wenn man mehrere Baustellen in verschiedenen Stadtteilen zu betreuen hatte und dann auch noch mit der Straßenbahn, dem Taxi oder zu Fuß unterwegs war. Allein die Fortbewegung kostete unglaublich viel Zeit – Rio war einfach zu groß geworden. Er hoffte, dass sein Wagen am nächsten Tag repariert sein würde, denn ohne eigenes Auto war seine Arbeit kaum zu bewältigen.
Als das Telefon klingelte, war er gerade mit verschränkten Armen auf dem Tisch eingenickt. Er schrak auf. Das musste Ana Carolina sein, denn viele andere Leute mit Telefon kannte er nicht.
»Henrique, wo steckst du denn? Du wolltest mich schon vor einer halben Stunde abholen.«
»Was?« Er unterdrückte ein Gähnen und hoffte, dass man es am anderen Ende der Leitung nicht hörte.
»Wir sind doch mit Isabel und Joaquim verabredet. Sag bloß, du hast es vergessen?«
»Ähm, nein, Liebling, natürlich nicht. Ich hatte nur einen furchtbar anstrengenden Tag und bin eben erst heimgekommen. Ich muss mich noch umziehen und …«
»Habe ich dich geweckt? Du klingst ein bisschen verschlafen.«
»Nein. Aber ich bin sehr müde.«
»Na, wie auch immer. Schaffst du es, in einer halben Stunde hier zu sein? Dann wären wir nur unwesentlich zu spät im Café das Flores.«
»Ja, das schaffe ich.« Nach einer kurzen Pause rief er aus: »Oh nein! Das hatte
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