Unter den Sternen von Rio
Lustlosigkeit. Die einzige Frau, die er je so tief geliebt hatte und ohne die er sich ein Leben nicht vorstellen konnte, verschmähte ihn, und zwar aus Gründen, die sich eigentlich leicht aus der Welt schaffen ließen. Hätte er mit Sicherheit sagen können, dass Caro seine Gefühle erwiderte, dann wäre ihm bestimmt kein Hindernis zu hoch erschienen, um es nicht aus dem Weg zu räumen. Aber was wusste er schon? Hatte sie ihm jemals ihre Liebe gestanden? Nein. Womöglich fühlte sie sich von seinen Bemühungen belästigt, und er schlug sie mit seiner Hartnäckigkeit erst recht in die Flucht. Diese Frage – weiter um sie werben oder nicht? – hatte eine schier unüberwindbare Mutlosigkeit bei ihm ausgelöst. War es das gewesen, was bei ihm eine Sehnsucht nach dem Tod hatte aufkommen lassen?
Wenigstens hatte er inzwischen Gewissheit, dass Caro nicht bei ihm gewesen war. Dass die Fischer keine zweite Person hatten bergen können, war für ihn nie ein sicheres Indiz gewesen. Ein Passagier hätte gut und gerne durch die Tür hinausgeschleudert werden können, und eine Leiche in den Weiten des Atlantiks zu finden … nun ja. Aber António hatte sich sämtliche Zeitungen aus Rio seit dem Tag seines Unfalls kommen lassen. Wäre jemand aus der gehobenen Gesellschaftsschicht vermisst worden, hätte es sicher in einem der Blätter gestanden. Gewissheit hätte ihm nur ein Gespräch mit Henrique geben können, doch der ließ sich nicht an seinem Krankenbett blicken. António war enttäuscht – und beunruhigt. Wusste Henrique etwas von Ana Carolinas Eskapaden? Hatte sie es ihm womöglich selber gestanden? Mied er ihn deshalb? Oder hatte er vielleicht gar nichts von dem Absturz mitbekommen? Denkbar wäre es. Henrique war manchmal so in seine eigene Welt versunken, dass er Dinge, die in der Zeitung standen, nicht wirklich zur Kenntnis nahm, es sei denn, sie betrafen seine Arbeit. Andererseits musste man schon sehr taub und blind für alles um sich herum sein, wenn man von dieser Geschichte nichts wusste. Es hatte in den führenden Zeitungen Rios auf der Titelseite gestanden und war danach noch tagelang im Innenteil ein Thema gewesen. Seine Mutter hatte peinlicherweise alle Artikel ausgeschnitten und in einem Hefter gesammelt, ganz so, als handele es sich bei dem Absturz um eine herausragende Leistung und nicht um ein Unglück, das ihn beinahe ein Bein gekostet hätte.
Den Doktor, João Henrique de Barros, fand er zwar unsympathisch, aber sehr kompetent; es war ihm gelungen, eine Amputation zu verhindern. Es bestand eine geringe Chance, dass António eines Tages wieder normal würde laufen können. Wahrscheinlicher sei es jedoch, dass er zeit seines Lebens ein wenig humpeln würde, hatte der Doktor gesagt. De Barros hatte ihn mit dieser nicht eben rosigen Aussicht ganz offen, sogar schonungslos, konfrontiert, und António war froh darüber. Nichts war ihm unerträglicher als Leute, die um den heißen Brei herumredeten oder vor lauter Mitleid mit ihm sprachen wie mit einem empfindsamen Dämchen. In Europa hatte er bei Männern seines Alters sehr viel mehr Verstümmelungen und Behinderungen gesehen – er konnte froh sein, dass er an diesem grässlichen Krieg nicht hatte teilnehmen müssen und dass es »nur« um einen Unterschenkel ging.
Durch die vielen erzwungenen Mußestunden und die zahlreichen Zeitungen, die man ihm mitbrachte, war er außergewöhnlich gut über alles unterrichtet, was derzeit die Stadt bewegte. Nie zuvor hatte er die Zeitung so intensiv studiert wie jetzt. Er las alles, Wichtiges und Belangloses, Politik- wie Sportseiten, sogar die Kleinanzeigen, und zwar von A bis Z. Bei einem kleinen Artikel im Feuilleton des »Jornal do Brasil« hatte er gestutzt. Es wurde der Auftritt einer Sängerin namens Bela Bel in dem
café-teatro
»Casa Blanca« angekündigt. Er kannte das Lokal, und die Künstlerin, von der man ein winziges Foto abgedruckt hatte, kam ihm ebenfalls bekannt vor, obwohl man unter dem gigantischen Kopfputz wenig von ihrem Gesicht sah. Woher kannte er sie nur? Er durchstöberte sein Gedächtnis, kam aber nicht darauf. Verfluchte Amnesie! Bestimmt hatte er in dem Zeitraum, der aus seinem Kopf gelöscht war, eine Show mit ihr gesehen. Doch je länger er überlegte, desto unerreichbarer wurden die wenigen Erinnerungsfetzen, die gelegentlich aufwirbelten.
Manchmal, wenn er erwachte, hatte er das sichere Gefühl, dass der Film in seinem Kopf nicht von einem Traum herrührte, sondern echte Erlebnisse
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