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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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abbildete. Aber er hatte in dem Dämmerzustand, der dem Aufwachen vorausging, Dinge gesehen, die eigentlich nicht geschehen sein konnten, denn sonst hätte man ihm sicher davon erzählt.
Du hast das Amazonasgebiet überflogen. Du bist vor den Florida Keys in einen Wirbelsturm geraten.
Das konnte doch gar nicht sein! Nach allem, was man ihm berichtet hatte, war er in den vergangenen Wochen in Rio gewesen. Dennoch waren ihm diese Eindrücke so vertraut, als hätte er sie erst kürzlich durchlebt. Ob er diese Bilder allein seiner Phantasie verdankte? Waren sie schon vor seinem Unfall Träume gewesen, Visionen einer Reise, der er anscheinend vorgehabt hatte?
    Denn dass er einen langen Flug geplant hatte, wurde immer offensichtlicher. Unter den Briefen, die sein Vater ihm ins Krankenhaus mitbrachte, befanden sich Rechnungen für Reiseutensilien wie Schlafsack oder Taschenlampe, außerdem verschiedene Antwortschreiben von US -amerikanischen Flugzeugausrüstern, die ihr Bedauern ausdrückten, ihm nicht behilflich sein zu können. Wie beschämend es war, dass er nicht einmal mehr wusste, um was er diese Leute gebeten hatte!
    Immerhin wusste er noch, wie Caro aussah. In den vielen Stunden, die er allein war, wenn weder seine Angehörigen noch alte Freunde neben seinem Bett saßen und ihn mit betroffenen Gesichtern bemitleideten, gab er sich gern den Erinnerungen an sie hin. Wie unbeholfen und verstört sie damals in Paris aus dem zwielichtigen Cabaret-Theater gelaufen war, ein Mädchen noch, das auf Femme fatale machte. Wie hübsch sie in Hosen und mit Fliegerkappe ausgesehen hatte, mit leuchtend rot geschminkten Lippen und einer kinnlangen Haarsträhne, die sich vorwitzig unter der Kappe hervorkringelte. Wie atemlos sie sich ihm an Karneval hingegeben hatte, mit geschlossenen Augen und halbgeöffnetem Mund, den Kopf nach hinten gelegt und mit seidenen Schmetterlingsflügeln am Rücken. Das war vielleicht das schönste der Bilder, symbolisierte es doch all seine Wünsche und sein Streben: Er wollte sie wieder flattern sehen, schillernd, sorglos und frei.
    Die Abende im Krankenhaus waren am schwersten zu ertragen. Man servierte ihm das ungenießbare Abendessen bereits um fünf Uhr nachmittags, so dass der Abend künstlich verlängert wurde. Und mit ihm die Einsamkeit. António hatte noch nie so viel gelesen wie jetzt, neben all den Zeitungen auch Bücher, die ihm wohlmeinende Besucher zuhauf mitbrachten. Sachbücher über Technik, Lyrikbände, aktuelle Romane – er verschlang alles mit derselben Gleichgültigkeit und primitiven Gier wie das Essen. Hauptsache viel und schnell – die Qualität war zweitrangig. Er ekelte sich ein wenig vor sich selbst. Seine wählerische Natur hatte sich ebenso zurückgezogen wie sein Gedächtnis. Er hoffte nur, dass beides zurückkam. Für seine Erinnerung sei dies zweifellos schon bald der Fall, hatte ihm Doutor de Barros versichert. Ob Antónios Ansprüche beim Essen oder beim Lesestoff ebenfalls wieder steigen würden, darüber hatten sie nicht gesprochen.
     
    »Sieh mal hier, ein Liebesbrief«, sagte sein Vater eines Tages schmunzelnd, als er ihm ein Kuvert aushändigte. »Das ist ja eindeutig die Handschrift einer Frau. Wer ist es denn?«
    António nahm den Umschlag, begutachtete ihn von allen Seiten, fand jedoch keinen Absender. Einzig ein winziges A. C. C. stand in einer Ecke. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Aber in Gegenwart seines Vaters würde er den Brief nicht lesen, genauso wenig wie er ihm mitteilen mochte, dass die Tochter seiner ärgsten Feindin ihm geschrieben hatte.
    »Ach, das ist nur eine Dame mittleren Alters vom Telegraphenbüro, die mir Eintrittskarten fürs Kino schickt. Ich habe kürzlich mit ihr gewettet, und sie hat verloren.« Eine bessere Notlüge fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.
    »Du solltest deine Mutter nicht erfahren lassen, dass du wettest. Sie hält es für gottlos. Und wette nie mit einer Frau.«
    António schüttelte den Kopf. »Ich wette ja auch fast nie. Außer wenn ich mir hundertprozentig sicher bin, dass ich gewinne.«
    Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sein Vater wieder abzog. Kaum war er aus der Tür, riss António das Kuvert auf. Caro! Sie hatte ihm endlich geschrieben! Doch als er den kurzen Brief überflog, setzte sein Herz vor Enttäuschung einen Schlag aus. Sie hatte ihm nur geschrieben, um ihm zu sagen, was ihr Schweigen bereits viel deutlicher zum Ausdruck gebracht hatte – und ihm darüber hinaus gute Besserung zu

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