Unter den Sternen von Rio
jetzt begriffen hast – manche Leute brauchen ihr halbes Leben, um zu dieser klugen Erkenntnis zu gelangen.«
Wieder lachten alle über Maries frivole Scherzchen. Auch Henrique heuchelte Erheiterung, damit man ihm nicht wieder vorwarf, ein Spielverderber zu sein. In Wahrheit aber war er von dem Verlauf des Tischgesprächs alles andere als begeistert. Für ihn war die Ehe heilig. Er liebte Ana Carolina, und er ging bereitwillig eine lebenslange Verpflichtung ein, weil er sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte. Wenn er vor dem Altar stand und die überlieferten Worte sprach, wonach er seine Frau lieben und ehren würde, in guten wie in schlechten Zeiten, dann würde er sie auch genauso meinen. Eine Hochzeit war doch kein Kostümball! Sie diente nicht dem Zweck, viele Leute einzuladen und Unsummen für ein sagenhaftes Fest auszugeben, von dem man noch seinen Enkeln erzählen konnte.
Auch Vitória und León hingen ihren eigenen Gedanken nach. León erinnerte sich an ihre Hochzeit und lächelte still in sich hinein. Die Umstände waren vielleicht nicht ideal gewesen – er hatte gewusst, dass Vita ihn in erster Linie heiratete, damit sie mehr Selbständigkeit gewann –, aber er war glücklich gewesen, denn er hatte die Frau bekommen, die er mehr als jede andere liebte. Vitória dagegen dachte an das, was die Zukunft möglicherweise bringen würde. Ihrer Meinung nach nützte eine Eheschließung vor allem den Frauen, da sie als Verheiratete mehr Rechte hatten. Wenn aber diese Bewegung für die Gleichberechtigung der Frauen eines Tages von Erfolg gekrönt war? Zu ihren Lebzeiten würde dieser Fall sicher nicht mehr eintreffen, aber vielleicht in vierzig oder fünfzig Jahren? Würden die Leute dann überhaupt noch heiraten? Was war das eigentlich für eine merkwürdige Institution, die Ehe? Je länger sie darüber nachdachte, desto merkwürdiger erschien es ihr, dass zwei Menschen sich ein Leben lang aneinanderketteten, zumal es sich oft um sehr junge und unerfahrene Menschen handelte, die gar nicht ahnten, worauf sie sich da einließen, ja, die den Ehepartner oft nicht einmal gut kannten.
»Du bist ein wenig geistesabwesend, Vita. Denkst du an deine eigene Hochzeit zurück?«, fragte Joana milde lächelnd.
Vitória musste sich sehr beherrschen, um ihrer Schwägerin keine allzu barsche Antwort zu geben. Allmählich ging ihr Joana mit ihrem Vergangenheitsfimmel auf die Nerven. War sie immer schon so gewesen? Oder wurde sie erst jetzt, in reiferem Alter, so gefühlsduselig?
»Ich versuche seit fast vierzig Jahren, sie zu vergessen«, sagte sie in einem Ton, aus dem nicht klar hervorging, ob sie scherzte oder ob sie es bitterernst meinte.
Max lachte herzhaft darüber, ein wenig zu laut vielleicht. Vitória drängte sich unvermittelt die Frage auf, ob seine und Joanas Ehe womöglich nicht ganz die Musterehe war, die sie für ihre Umwelt zu sein schien. Oft hatte sie selber sie schon als Vorbild herangezogen, wenn sie sich wieder einmal mit León gestritten hatte. Nun, eigentlich wollte sie es gar nicht so genau wissen. Lieber blieb sie in dem Glauben, dass Joana und Max eine perfekte Ehe führten, während ihr und León dieses Glück verwehrt geblieben war.
»… und ließ das Tablett fallen, woraufhin der Hund das ganze verschüttete Bier aufschleckte«, bekam Vitória das Ende einer Geschichte von Maurice mit, die von den jungen Leuten mit lautem Gelächter honoriert wurde.
So sollte es sein. Die Jugend sollte unbeschwert sein. Man sollte sich auf eine Hochzeit freuen, und man sollte sich, wenn liebe Gäste zu Besuch waren, amüsieren und gemeinsam lachen, anstatt trübsinnigen Gedanken nachzuhängen.
»Erinnerst du dich noch an Sábado?«, fragte Joana ihre Schwägerin, während die jungen Leute einander unbeirrt weiter ihre albernen Geschichten erzählten. Es war, als säßen zwei Parteien an einem Tisch, hier die Alten, da die Jungen, jede in ihrem eigenen Kosmos gefangen.
León lachte laut auf. »Dieses Viech hat uns ein Vermögen gekostet.«
»Ach, ich dachte immer, ihr hättet ihn geschenkt bekommen?«
»Ja, ich habe ihn sozusagen gerettet. Aber all die kostbaren Möbel, die er angeknabbert hat, all die schönen Kleider von Spaziergängern, die er freudig angesprungen hat – Reinigung und Reparaturen verschlangen Unsummen«, antwortete Vitória.
»Weil er nie konsequent erzogen wurde«, ergänzte León.
»Weil du dich dieser Aufgabe nicht angenommen hast.«
»Weil es nicht mein Hund war,
Weitere Kostenlose Bücher