Unter den Sternen von Rio
über der Toilettenschüssel.
So schrecklich er sich auch fühlte, so froh war er, allein zu sein. Der Wirbel, den das Pflegepersonal im Hospital immer um seine Person gemacht hatte, war ihm fürchterlich auf den Wecker gegangen. Und die ständigen Besucher, die unaufgefordert und unangemeldet erschienen waren, hatten ihm ebenfalls zugesetzt. Niemand hatte je gefragt, ob es gerade passte oder ob er ungelegen kam, jeder war anscheinend der festen Überzeugung gewesen, António müsse sich über Besuch freuen. Nicht er hatte entscheiden dürfen, wann er jemanden sehen wollte oder nicht, die festgelegten Besuchszeiten hatten dies getan. Auch die Essenszeiten waren reguliert gewesen, genau wie die Wach- und Schlafenszeiten. Abscheulich, wie ihn die Schwestern morgens um sechs aus dem Bett gehievt hatten, um die Laken zu wechseln, und zwar täglich. Das Ganze war seiner Meinung nach reine Schikane, damit die Kranken sich noch kränker fühlten und den Ärzten jeden Unsinn abnahmen, den diese zuweilen mit heiligmäßiger Miene von sich gaben. Mein Gott, wie sehr er sich darauf freute, so lange schlafen zu dürfen, wie es ihm beliebte!
Vielleicht sollte er jetzt gleich ein kurzes Nickerchen halten, in seinem Sessel mit dem Panoramablick aus dem Fenster. Er erwartete niemanden, und eine kleine Siesta würde ihm guttun. Das Essen würde er sich später aufwärmen. Er hatte sich zwar noch nie in seinem Leben eine Mahlzeit gekocht, aber einen Topf auf die Gasflamme zu stellen, das dürfte ja nicht allzu schwer zu bewerkstelligen sein.
Er humpelte schwerfällig zu seinem Platz und blieb kurz am Fenster stehen, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Aber – das konnte doch nicht sein! War das etwa Caro da unten? Er sah eine grazile Frau entschlossen um die Ecke verschwinden, die genau denselben Gang hatte wie Caro und einen Hut trug, wie er ihn schon einmal bei ihr gesehen hatte. Oder sah er jetzt schon Gespenster? Von oben hatte er das Gesicht nicht erkennen können, und sicher gab es zahllose Frauen mit demselben Hut. Resigniert setzte sich in seinen Sessel. Wäre er gesund gewesen, wäre er, so schnell er konnte, nach unten gerannt und ihr nachgelaufen.
Wie wenig man über die Gesundheit nachdachte, wenn man sie besaß – nie zuvor war ihm aufgefallen, wie weit es vom Bad zum Wohnzimmerfenster war. Er sinnierte noch eine Weile über die Wertschätzung dessen, was man nicht besaß, wobei seine Gedanken unweigerlich zu Caro wanderten. Ob es in der Liebe auch so war? Begehrte er sie nur deshalb so stark, weil sie so schwer zu haben war? Würde er sie, wenn sie sich ihm an den Hals werfen würde, auch noch lieben? Oder würde er sie nur nett finden, eine liebe Freundin?
In diesem Augenblick segelte eine Möwe so dicht an seinem Fenster vorbei, dass er befürchtete, sie würde in die Scheibe krachen. Blitzartig tauchte ein verstörendes Bild vor ihm auf – von zersplitterndem Glas –, doch es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Es hinterließ einen schalen Nachgeschmack und ein mulmiges Gefühl.
Caro hatte bestimmt eine Viertelstunde unentschlossen vor dem Hauseingang gestanden. Sollte sie oder sollte sie nicht? Einer der Portiers – wie es sie in jedem Apartmenthaus gab, als Concierge, Hausmeister und Mädchen für alles in Personalunion – hatte sie lächelnd gegrüßt. Er balancierte einen abgedeckten Teller mit Essen, das köstlich duftete und sie daran erinnerte, dass sie riesigen Hunger hatte. Zu wem sie wolle, hatte er sie gefragt, doch sie hatte nur den Kopf geschüttelt: »Ach, zu niemandem.« Hätte sie nicht ausgesehen wie eine junge Frau der Oberschicht, wäre ihm das sicher suspekt erschienen, und er hätte sie aufgefordert weiterzugehen.
Aber dessen bedurfte es gar nicht. Als sie »zu niemandem« gesagt hatte, war ihr Entschluss gefallen. Heute würde sie António nicht mehr besuchen. Um ihr Gesicht zu wahren, tat sie so, als suche sie etwas in ihrer Handtasche. Dann ging sie fort, begleitet vom traurigen Kreischen der Möwen, die über ihr kreisten.
27
B el war nicht mehr sie selbst. Sie sah ungepflegt aus, ihr Haar war stumpf, die Haut übersät mit Pickeln, ihre Augen blickten glasig. An den Unterarmen hatte sie sich blutig gekratzt, obwohl von ihren schönen Fingernägeln nicht mehr viel übrig war, so weit hatte sie sie heruntergekaut. Sie sah aus wie ein Häufchen Elend, und sie benahm sich auch so. Sie ging kaum noch vor die Tür, sie wollte niemanden sehen, und beim
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