Unter den Sternen von Rio
ihr jetzt. Bel schlief jeden Tag bis in die Puppen, schlurfte in die Küche, bediente sich dort und verschwand wieder in ihrem Zimmer, wo sie weiß Gott was tat. Philosophieren wahrscheinlich, wie ihr Vater. »Beweg dich. Und mach dich endlich mal nützlich. Ich ersticke in Arbeit, und dann tauchst du hier auch noch auf und lässt dir den Allerwertesten herumheben.« Neusa ging zum Fenster, schob die Gardinen beiseite und öffnete es sperrangelweit. »Hier drin stinkt’s. Du solltest dich mal waschen. Und deine Kleider wechseln.«
»Ja«, erwiderte Bel matt. Sie wusste, dass ihre Mutter recht hatte. Aber irgendetwas hinderte sie daran, das zu tun, was richtig gewesen wäre. Sie fühlte sich wie gelähmt, der einfachste Handgriff erschien ihr wie eine unüberwindbare Hürde. So kam zu ihrem desolaten seelischen Zustand auch noch das schlechte Gewissen, und alles zusammen lastete so schwer auf ihr, dass es sie körperlich niederdrückte und bewegungsunfähig machte. Wie sollte sie das ihrer Mutter erklären, zumal sie auch das Reden unglaubliche Anstrengung kostete?
Neusa ärgerte sich maßlos über ihre Tochter, war zugleich aber auch zutiefst erschüttert. Was war aus der schönen, quicklebendigen Bel geworden? Was war bloß geschehen, dass aus ihrer Tochter ein solches Wrack geworden war? Und wie lange sollte dieser unhaltbare Zustand noch andauern? Sie hätte tausendmal lieber die alte, aufsässige, freche Bel zurückgehabt, als sich dieses Bündel Elend noch länger anzusehen.
»Ich weiß, dass es dir nicht gutgeht, ist ja nicht zu übersehen. Aber wenn du hier vor dich hin rottest, wird es auch nicht besser, oder? Also raff dich endlich auf. Wenn du gewaschen und umgezogen bist, fühlst du dich gleich viel wohler, wirst schon sehen. Dann kommst du runter, da gebe ich dir was zu tun. Eine leichte Arbeit, nichts Schlimmes.«
»Ist gut,
mãe.
«
»In einer Viertelstunde bist du unten. Ich mach dir was zu essen.«
»Ja, in Ordnung.«
Als Bel die Schritte ihrer Mutter hörte, wie sie die Treppe hinabging, hätte sie heulen können. Sie hatte das Gefühl, es niemals aus dem Bett zu schaffen, geschweige denn all die anderen Dinge zu tun, die ihre Mutter ihr aufgetragen hatte. Sie blieb liegen. Nur noch ein paar Minuten, sagte sie sich, dann würde sie sich einen Ruck geben. Aber auch nach ein paar Minuten fühlte sie sich noch nicht gewappnet, der Realität ins Auge zu sehen. Sie hörte jemanden auf dem Flur vor ihrem Zimmer. Oh nein, bitte nicht wieder die Predigt ihrer Mutter – die ja so recht hatte und die so wenig verstand. Es klopfte. Huch? Das würde ihre Mutter nicht tun, die platzte einfach so hier herein.
»Ja bitte?«, sagte Bel leise und in einem Ton, der ihre Neugier und ihre Unsicherheit gleichermaßen verriet. Eigentlich hätte sie am liebsten geschrien, sie sollten sie doch bloß alle in Ruhe lassen.
Die Tür öffnete sich, und Dona Fernanda lugte um die Ecke. Ihre liebe Oma. Mein Gott, die hatte sie ganz vergessen.
»Darf ich reinkommen?«, vergewisserte Dona Fernanda sich.
Bel nickte.
Dona Fernanda ging sehr langsam und vorsichtig. Als sie an Bels Bett ankam, setzte sie sich ächzend auf die Kante.
»Na, wir sind ja zwei schöne Patienten, was?«, sagte sie und strich Bel liebevoll über den Kopf. »Ich kann mich nicht mehr bewegen, obwohl ich es so gern würde, und du willst es nicht, obwohl du es könntest. Blöd, so was.«
Bel versuchte zu lächeln, doch selbst dazu fehlte ihr die Kraft. »Geht es dir gut?«, gelang es ihr immerhin zu fragen.
»Nein. Aber wenn ich mir dich so ansehe, denke ich, dass es mir vielleicht gar nicht so schlechtgeht. Bei mir weiß ich wenigstens, dass es am Alter liegt.«
Bel schwieg. Was sollte sie schon darauf erwidern? Vielleicht, dass es bei ihr auch am Alter lag – denn wenn sie alt und hässlich wäre, hätten die Männer kein Interesse an ihr. Ihr traten Tränen in die Augen.
»Wein ruhig, Schätzchen. Was immer es ist, lass es raus.«
Und Bel weinte. Plötzlich kamen die Tränen, die sie so lange nicht hatte weinen können, weil ihr selbst dazu die Kraft oder der Antrieb gefehlt hatte. Sie heulte Rotz und Wasser, und ihre Großmutter murmelte beschwichtigende Worte, die wenig Sinn ergaben, aber umso mehr Trost spendeten.
Dona Fernanda überlegte, ob sie Bel vielleicht einmal ihre eigene Geschichte erzählen sollte, und zwar die ganze ungeschönte Wahrheit und nicht das Heldenepos, das sie und Felix im Laufe der Jahrzehnte daraus gemacht
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