Unter den Sternen von Rio
nicht. Aber du bist nicht du selbst, seit wir sie getroffen haben. Du scheinst so abwesend.«
Wie gut seine Schwester ihn kannte! Es war ihm schon als Kind schwergefallen, irgendetwas vor ihr zu verheimlichen.
»Ich bin seit meinem Absturz nicht mehr ich selbst«, behauptete er. Dabei entsprach das nicht ganz der Wahrheit. Seine Erinnerungen waren, wie von Doktor de Barros prophezeit, recht schnell und vollständig zurückgekehrt, nachdem die ersten Bilder in seinem Kopf wieder aufgetaucht waren. Es hatte mit Erinnerungsfetzen und Assoziationen begonnen, wie etwa an dem Tag, als die Möwen vor seinem Fenster kreisten. Kurz darauf hatte der Duft eines bestimmten Parfums seinem Gedächtnis einen Schubs gegeben, es roch genauso wie jenes, das eine Freundin bei einer kleinen Party während des fraglichen Zeitraums aufgetragen hatte. Und dann waren sie plötzlich wieder alle da gewesen, die Bilder, Eindrücke, Düfte, Geräusche und Erlebnisse der verloren geglaubten zwei Wochen.
Allerdings war es eine herbe Enttäuschung gewesen. Er hatte sich gefühlt wie ein Kind, das eine riesige Geschenkschachtel öffnet und darin nur immer weitere Schachteln findet, bis es am Ende, in dem letzten Schächtelchen … gar nichts entdeckt. Er hatte insgeheim gehofft, dass sich unter den wiedergekehrten Erinnerungen auch eine schöne befinden würde, etwa die an eine verheißungsvolle Begegnung mit Ana Carolina. Aber nichts. Es waren zwei Wochen gewesen, in denen er viel gearbeitet und einen langen Flug vorbereitet hatte. Abgesehen von einem Essen mit seiner Familie sowie der Party bei einem Freund war nichts Nennenswertes geschehen. Außer dass er nun über die Absturzursache Gewissheit hatte, hatte ihm die Rückkehr seiner Erinnerungen wenig gebracht.
Er hätte diese zwei Wochen genauso gut aus seinem Gedächtnis streichen können.
Und die Wochen davor ebenfalls.
»António, du verschweigst mir doch etwas. Willst du es mir nicht anvertrauen? Du weißt, dass ich Geheimnisse sehr gut für mich behalten kann«, holte ihn seine Schwester in die Gegenwart zurück.
»Es ist nur … es ist nichts.«
»Ein sehr hübsches Nichts, wenn du mich fragst.«
António verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln, das ganz allmählich breiter wurde, bis er schließlich laut herauslachte. Laura fiel in sein Lachen mit ein.
»Und was unternehmen wir nun in dieser Sache?«, fragte sie.
»Nichts.«
Bis zum Ende der Fahrt krümmten sich die Geschwister vor Lachen, von den mitfahrenden Passagieren argwöhnisch beäugt. Man sollte den Alkoholausschank am helllichten Tag verbieten.
30
N eusa war sich so sicher gewesen, dass ihre Tochter schwanger war. Als sich herausstellte, dass dies nicht der Fall war, mischte sich unter ihre große Erleichterung aber auch ein winziger Funke von einem wenig mütterlichen Gefühl. War es Neid darauf, dass Bel offenbar mehr Glück hatte als sie selber, die sie ja allzu früh hatte heiraten müssen? Oder war es die Niederlage, weil sie mit ihrer Prophezeiung danebengelegen hatte? Es war in jedem Fall ein hässlicher Zug von ihr, für den Neusa sich schämte. Was war sie nur für eine Rabenmutter? Sie sollte sich uneingeschränkt für ihr Kind freuen, sollte Verständnis oder Mitleid aufbringen und Bel nach Kräften unterstützen, wieder aus ihrer Lethargie herauszufinden.
Doch nachdem Bel tagelang schweigend herumgelegen hatte und sich hatte bedienen lassen, war auch noch der letzte Rest von Neusas ohnehin dürftigem Vorrat an Mitgefühl aufgebraucht. Sie war mit ihrer Geduld am Ende – und mit ihren Kräften ebenfalls. Sie hatte jetzt nicht nur einen Ehemann am Hals, der sich zu Hause lediglich zum Schlafen blicken ließ, sondern auch eine bettlägerige Schwiegermutter, ein Baby, das zu Koliken neigte, zwei Schulkinder mit einem nie enden wollenden Reservoir an Dreck unter den Schuhen sowie eine missratene Halbwüchsige mit Liebeskummer oder was auch immer. Alle wollten zu essen haben, saubere Kleidung tragen, in einem gepflegten Zuhause leben. Alle hatten darüber hinaus noch Sonderwünsche, die sie, Neusa, zu erfüllen hatte: Der eine mochte keine schwarzen Bohnen, der nächste brauchte Hilfe beim Schuheschnüren, wieder einer wollte eine Gutenachtgeschichte hören. Und die einzige Person, die dafür zuständig war, dass alles lief, war sie. Es war ihr einfach zu viel.
»Steh endlich auf, du faules Stück!«, herrschte sie daher an diesem Morgen ihre Tochter an. Oder besser: an diesem Mittag. Es reichte
Weitere Kostenlose Bücher