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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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hatten, um die Kinder nicht zu verstören. Aber das sähe vielleicht zu sehr nach der Art von Aufmunterung aus, die Bel im Augenblick gar nicht brauchte, etwa als würde sie sagen: Sieh nur, was mir Furchtbares widerfahren ist – viel schlimmer kann es bei dir ja auch nicht gewesen sein. Nein, das hätte womöglich den gegenteiligen Effekt. Wenn man den Anlass für ihre Niedergeschlagenheit unbedeutender erscheinen ließ, als es sich für Bel darstellte, würde sie womöglich noch schwermütiger werden. Was nicht heißen sollte, dass Dona Fernanda glaubte, Bel hätte keinen wirklich triftigen Grund für ihre derzeitige Verfassung. Sie war überzeugt, dass dem Mädchen etwas sehr, sehr Hässliches zugestoßen sein musste.
    Sie saßen geraume Zeit nebeneinander auf dem Bett, in enger Umarmung, und spendeten einander Trost. Denn wenn die Anwesenheit ihrer Großmutter für Bel etwas Wärmendes hatte, so war es umgekehrt kaum anders. Dona Fernanda vereinsamte in diesem Haus, inmitten ihrer Familie. Es war ewig her, dass jemand sie in den Arm genommen hatte, auch Bel war da keine Ausnahme gewesen. Das Kind war ja nur aufs Tanzen aus gewesen, aufs Poussieren mit den jungen Männern. Sie nahm es ihr nicht übel, so war sie nun einmal, die Jugend. Die Großmutter nahm man da so hin wie einen alten Hund, den irgendwie alle liebten, aber der auch alle mit seinem strengen Geruch störte und für den keiner richtig zuständig war.
    »Es tut gut, dich mal wieder zu drücken«, sagte Dona Fernanda zu Bel.
    »Wo steckst du denn, Bel?«, rief ihre Mutter von unten. »Hab Suppe für dich warm gemacht, also beeil dich gefälligst ein bisschen. Du musst was essen, um zu Kräften zu kommen. Hier wartet nämlich Arbeit auf dich.«
    »Sie meint es nicht so«, nahm Dona Fernanda ihre Schwiegertochter in Schutz. »Sie hat es nicht leicht. Und ihren ganzen aufgestauten Ärger wird sie los, indem sie herumkommandiert und schreit.«
    »Hm«, machte Bel, es klang wenig überzeugt.
    »Na komm, lass uns gemeinsam versuchen aufzustehen.« Dona Fernanda erhob sich schwerfällig und hatte sichtlich Schwierigkeiten, ohne Halt aufrecht zu stehen. Bel sprang auf, um sie zu stützen. »Ah, geht doch«, kommentierte ihre Großmutter.
    »Hm«, war erneut alles, was Bel zuwege brachte.
    »Geh runter und iss, was sie dir vorsetzt. Und danach kannst du mich ja mal besuchen, in meiner winzigen Kammer, wo sie mich zum Sterben abgestellt haben.«
    »Aber …«
    »Es ist schon gut. Geh jetzt.«
     
    Diese Begegnung mit Dona Fernanda hatte Bel nachdenklich gemacht. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben dachte sie nicht nur an sich selbst, sondern an eine andere Person. Ihr war nicht klar gewesen, wie schlecht es ihrer Großmutter ging und wie schmählich sie vernachlässigt wurde. Das hatte sie nicht verdient. Bel erinnerte sich plötzlich an so viele Dinge aus der Zeit, als Dona Fernanda noch jünger gewesen war. An manchen Tagen hatten die drei Kinder – der Jüngste war da noch nicht auf der Welt gewesen – mit ihrer Oma Ausflüge unternommen, und zwar nicht zum Jahrmarkt oder ans Meer, sondern an gruselige Orte, zu denen Dona Fernanda die passenden Geschichten erzählte, etwa den einstigen Sklavenmarkt. Dona Fernanda hatte sie auch zu Hause unterrichtet, denn sie war Lehrerin gewesen und fand, dass die Kinder in der Schule nicht genug lernten. Manchmal hatte sie Lieder vor sich hin gesummt, die sich, wenn man nachfragte, als alte Sklavenlieder entpuppten.
Das haben wir bei der Kaffee-Ernte gesungen.
Bel entsann sich auch der vielen Gelegenheiten, als Dona Fernanda aufgeschlagene Knie verarztet und die Kinder getröstet hatte, ihnen heimlich ihr selbstgemachtes
pé de moleque
 – Erdnuss-Karamell – zugesteckt oder ihnen aus Büchern der Weltliteratur vorgelesen hatte, für die sie eigentlich noch zu jung gewesen waren. Sie war ihnen die perfekte Großmutter gewesen, und keiner dankte es ihr.
    Bel betrat die Küche und setzte sich an den Tisch, auf dem ihre Mutter schon zwei Teller gedeckt hatte.
    »Das hat ja ewig gedauert! Fast wär mir das Essen verbrannt. Hier«, damit stellte sie einen Topf mit
tutu de feijão à mineira
auf den Tisch, ein Gericht, von dem sie wusste, dass es zu Bels Leibspeisen gehörte. Doch Bel hatte nicht viel Appetit, und als sie das wenig ansehnliche Gemenge aus Bohnen, Maniokmehl sowie Speck- und Wurstbrocken sah, verging er ihr vollends.
    »Ich hab extra nur das
tutu
gekocht und nicht noch Fleisch oder so dazu, weil

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