Unter den Sternen von Rio
anders als in höflichem Ton. Aber warum hätte sie, die Tochter von Hühner-José, auch lesen lernen sollen? Damit sie all diesen Unsinn in den vielen Zeitungen verstehen konnte, die Felipe von den Verlagen mitbrachte, die er belieferte? Es reichte doch, wenn sie wusste, wie man einen Fisch richtig ausnahm, wie man den Preis für ein Kilo schwarze Bohnen drückte oder wie man Flecken von Schmieröl aus der Kleidung entfernte. Den lieben langen Tag schuftete sie, sie wusch, kochte, kaufte ein, putzte, spülte, nähte, gärtnerte und räumte allen alles hinterher. Warum sollte das nicht genug sein? Zeitungen lesen, das war doch etwas für Träumer oder für reiche Leute, die sich nicht mit ehrlicher Arbeit die Finger schmutzig machen wollten. Oder für weiße Neger, so wie Dona Fernanda. Nur weil sie so klug war und so gebildet, brauchte sie noch lange nicht zu glauben, sie sei weniger schwarz als der Rest der Familie. Und so würde es nun mal bleiben.
Man richtete nur Unheil an, wenn man den Kindern erzählte, mit mehr Wissen könnten sie genauso erfolgreich sein wie die Weißen. Die schönen Träume würden eines Tages zerplatzen wie Seifenblasen, dann nämlich, wenn die Kinder die Härte der Realität zu spüren bekamen. Eines Tages würde ein Weißer, der nicht halb so schlau war wie ihr kleiner Lulu, eine Stelle bekommen, auf die beide sich bewarben – einfach nur, weil er die richtige Hautfarbe hatte. Irgendwann würde ihre süße Lara merken, dass ihr das ganze Alphabet nichts nützte – weil man eine Schwarze nur als Putzhilfe oder Kindermädchen einstellte. Die Enttäuschung wäre riesig. War es da nicht besser, den Kindern von vornherein klarzumachen, wo ihr Platz auf der Welt war?
Sie, Neusa Silva dos Santos, war vielleicht ungebildet, aber blöd war sie nicht. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um Bel von einer Dummheit abzuhalten. Denn eine Karriere als Tänzerin, Sängerin oder gar Filmschauspielerin, von der das Mädchen träumte, war ihr sowieso verwehrt. Junge Frauen wie Bel, die solche Flausen im Kopf hatten und eine dunkle Hautfarbe, landeten unweigerlich in der Gosse. Bel hätte bestenfalls eine Chance als Tänzerin in einem zwielichtigen Kasino, statt dass sie Auftritte auf großen Bühnen bekäme, und die Männer mit den »guten Verbindungen« würden diese höchstens nutzen, um Bel ins Bett zu kriegen und nicht auf die Leinwand. Neusa wusste es einfach. Sie kannte die Welt, und sie kannte die Männer. Und am allerbesten wusste sie um die Dummheit der jungen Mädchen.
Wovon Neusa nichts ahnte, war die Entschlossenheit ihrer Tochter. Während Bel sonst nur unter Androhung von Gewalt aus dem Bett kam, war sie an diesem Morgen als Erste wach gewesen und aus dem Haus gegangen, ohne dass es die anderen mitbekamen. Sie hatte das sichere Gefühl gehabt, dass man ihr daheim nur Steine in den Weg legen würde. Lieber blieb sie für die Zeit, die die Umsetzung ihres Planes brauchte, bei einer guten Freundin. Länger als ein paar Wochen, davon war Bel überzeugt, würde es ohnehin nicht dauern. Ihre Idee war genial, und sie würde im Handumdrehen einen Mäzen finden, der sie ganz groß herausbrachte.
Mit einem kleinen Bündel in der Hand und riesigen Plänen im Kopf ging sie über das holprige Kopfsteinpflaster. Die Straßen ihres Viertels, die ihr so vertraut waren, wirkten nun, im Morgengrauen, völlig fremd. Die Läden waren noch geschlossen, und es waren kaum Menschen unterwegs. Nur ein Bäckerjunge auf einem Fahrrad und eine alte Frau mit einem Handkarren, auf dem sie Gemüse transportierte, offensichtlich auf dem Weg zum Markt. Die beiden erkannten sie nicht einmal, wahrscheinlich schliefen sie bereits, wenn sich bei Bel langsam die Lebensgeister regten. Die Luft roch viel frischer als am Nachmittag, wenn die Hitze und der Abfall im Rinnstein für einen allgegenwärtigen Modergestank sorgten.
Der frühe Morgen war gar nicht mal so schlecht, fand Bel. Er hatte nur einen entscheidenden Nachteil, dass nämlich niemand von den Leuten, bei denen sie vorstellig werden wollte, schon arbeitete. Und ihre Freundin schlief sicher auch noch. Nun ja, zu Fuß würde sie eh eine ganze Weile brauchen, bevor sie bei Beatriz eintrudelte. Denn dass Bel den Bus oder die Straßenbahn nahm, war ausgeschlossen. Ihre wenigen
centavos
würde sie nun, da sie auf Unterstützung von zu Hause kaum rechnen konnte, zusammenhalten müssen. Fast bedauerte sie schon, dass ihre kurze Abschiedsnotiz so barsch
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