Unter den Sternen von Rio
ausgefallen war.
Pai, Mãe: Ich werde tanzen. Ihr bekommt es dann schon mit, wenn ich berühmt bin. Bel.
Kein Küsschen, keine lieben Grüße, keine Entschuldigung – nichts, was die beiden besänftigen könnte. Ach was, wischte Bel den leichten Anflug von Gewissensbissen beiseite, wer Erfolg haben wollte, musste rücksichtslos sein, basta. Ihre Eltern lebten ihr Leben, wie sie es für richtig hielten, und sie lebte ihres.
Sobald sie erst Erfolg hatte, wären alle Schwierigkeiten, die sie auf dem Weg dorthin vielleicht haben würde, vergessen. Ihre Eltern wären stolz auf sie, ihre Geschwister würden mit ihr angeben, die einstigen Nachbarn würden sich damit brüsten, die berühmte Bel von früher zu kennen. Ah, was für herrliche Aussichten!
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ja auch Nilton von ihrer »Flucht«, so es denn eine war, in Kenntnis setzen musste. Ihre Truppe wäre aufgeschmissen ohne sie. Ob sie ihre Proben vielleicht an einem anderen Ort abhalten konnten? Es war jedenfalls undenkbar, dass sie hier im Viertel übten, denn dann würde ihre Mutter sie wahrscheinlich eigenhändig an den Haaren nach Hause schleifen.
Bel legte unmerklich einen Schritt zu. Ein Passant hätte sie für ein berufstätiges Mädchen halten können, das es sehr eilig hatte, um nicht zu spät zu ihrer Arbeit zu kommen. In ihrem Kopf rumorte es von der Vielzahl an widersprüchlichen Gedanken. Die Probleme, die es zu lösen galt, legten sich immer wieder wie Schatten auf die schönen Visionen von ihrer glänzenden Zukunft, und je fieberhafter Bel nachdachte, desto schneller wurde sie, völlig blind für den zunehmenden Verkehr auf den Straßen und die zahlreicher werdenden, ebenfalls gehetzt wirkenden Menschen.
Erst eine laute Autohupe und quietschende Bremsen holten Bel aus ihrer Versunkenheit.
5
A na Carolina war schon als Kind besser mit Jungen als mit Mädchen zurechtgekommen, und bis heute fühlte sie sich in der Gesellschaft von Männern wohler als in der von Frauen. Nun aber bedauerte sie es, dass sie nicht eine einzige echte Vertraute besaß. Gerade jetzt hätte sie sich eine weibliche Gesprächspartnerin gewünscht. Denn wenn es eines gab, über das Männer nicht gern redeten, schon gar nicht mit ihr, dann waren es Gefühle.
Sie hätte Marie schreiben können. Ihre Cousine in Paris war die einzige Person, die sich zu Recht als ihre Freundin betrachten konnte. Doch beim Thema Antoine – oder besser: António – konnte sie kaum auf das Verständnis Maries hoffen. Es hatte ja schon damals für Verstimmungen gesorgt, wenngleich Marie natürlich nie die Identität des Mannes erfahren hatte, der Ana Carolinas geheimniskrämerische Allüren ausgelöst hatte.
Seine
Identität.
Es war ein Schock gewesen zu erfahren, dass es sich um den Sohn des Erzfeindes ihrer Mutter handelte. Ein beinahe noch größerer Schlag war die Erkenntnis gewesen, dass Dona Vitória sie alle von A bis Z belogen hatte, jahrzehntelang. Denn António war alles andere als ein dummer und hässlicher Kerl, wie er es als »Carvalho-Pack« ja hätte sein müssen. Wie hatte sie, Ana Carolina, nur so naiv sein können, die Behauptungen ihrer Mutter einfach zu glauben und sogar zu übernehmen? Man hatte ihr so lange eingetrichtert, dass diese Familie verabscheuungswürdig war, bis sie selbst keinerlei Zweifel daran hegte.
Und wenn António Carvalho nicht halb so übel war, wie man sie hatte glauben machen, dann traf dies doch vielleicht auch auf seine Angehörigen zu. Vermutlich war Dona Madeleine eine herzensgute Dame und Roberto Carvalho ein kluger, vornehmer Geschäftsmann. Höchstwahrscheinlich hatten die beiden nur den Fehler begangen, Dona Vitória im Weg zu stehen, bei welch unsäglich
raffinierter
Unternehmung auch immer.
Ana Carolina würde es nie herausfinden. Denn dass sie den Kontakt zu António intensivierte, geschweige denn seine Familie kennenlernte, war völlig ausgeschlossen. Zum einen war da die Tatsache, dass sie mit Henrique verlobt war und ihre Hochzeit in Kürze stattfinden sollte. Wie hätte sie sich da mit einem anderen Mann abgeben können, und sei es auf einer rein freundschaftlichen Basis? Die Klatschmäuler würden nicht ruhen, bis sie Henrique, sie selbst sowie den Freund des Verlobten dadurch gedemütigt hätten, dass noch die unschuldigste aller Regungen in den Dreck gezogen wurde. Zum anderen war da die allmählich zurückkehrende Erinnerung an einen scheußlichen Nachmittag in Paris, dunkel und kalt, an schmutzigen
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