Unter den Sternen von Rio
Schneematsch und ein verwaistes Kinofoyer – und an das niederschmetternde Gefühl vollkommener Leere, als sie begriff, dass António sie versetzt hatte. So etwas wollte Ana Carolina nie wieder erleben.
Allerdings spukten da noch andere Dinge in ihrem Kopf herum: das Prickeln auf ihren Lippen, die er absichtlich unabsichtlich gestreift hatte, oder auch das herrliche Gefühl morgens beim Erwachen, als das bevorstehende Rendezvous sie euphorisiert hatte.
Henrique hatte solche Empfindungen bisher nie in ihr ausgelöst. Allerdings hatte er sie auch noch nie versetzt.
Es war ein Leichtes gewesen, Henrique von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass sie den Umgang mit seinem Freund auf ein Minimum zu beschränken hatten.
»Henrique, du weißt doch, wie Dona Vitória auf diese Leute zu sprechen ist. Wenn sie erfährt, dass ich mit einem von, ich zitiere, ›diesem Carvalho-Pack‹ verkehre, wird sie noch eine Dummheit begehen.«
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Henrique traurig. »Wieso wusste ich vorher nichts von dieser lächerlichen Fehde?«
»Weil du dich aus dem ganzen Gerede, aus Klatsch und Tratsch heraushältst. Und dafür liebe ich dich.«
»Ja, aber …«
»Und weil António so lange fort war. Hier in Rio wären wir ihm schon vor Jahren begegnet, und du hättest von Dona Vitórias blödem Rachefeldzug erfahren.«
»Ach, meine Liebe, du ahnst nicht, wie sehr mich das mitnimmt. Ich wollte António sogar bitten, mein Trauzeuge zu werden.«
»Tja, daraus wird wohl nichts.«
»Nein.« Abermals schüttelte Henrique verständnislos den Kopf. »Ich kann einfach nicht begreifen, was Dona Vitória gegen die Carvalhos hat. Es sind ganz wunderbare Leute von ausgezeichnetem Ruf, bester Herkunft und einnehmendem Wesen. Hättest du mich nicht eines Besseren belehrt, würde ich sogar glauben, dass sie einander mögen. Dass sie Freunde sind. Sie ähneln einander sogar ein wenig.«
»Oje, Henrique, lass das bloß nicht meine Mutter hören.«
»Nein, nein.« Er zuckte bei dem Gedanken an die Reaktion seiner zukünftigen Schwiegermutter ein wenig zusammen. »Aber wie gehen wir denn nun mit der Situation um, Schatz? Ich meine, wir werden António doch wohl noch treffen können, oder etwa nicht?«
»Natürlich können wir das. Nur vielleicht nicht gerade im Haus meiner Eltern. Aber wenn wir die Begegnungen auf deine Wohnung oder neutrale Orte beschränken, wird Dona Vitória ja nichts davon mitbekommen.«
»Es ist ein grässlicher Gedanke, dass wir einen alten Freund, einen vorzüglichen Kavalier, verleugnen müssen.«
»Ja«, bestätigte Ana Carolina kurz angebunden. Sie gab Henrique absolut recht. Es war unmöglich, sich von einer alten Frau diktieren zu lassen, mit wem man befreundet sein durfte und mit wem nicht. Dass es sich bei António allerdings um einen »vorzüglichen Kavalier« gehandelt hätte, dazu mochte sie sich nicht äußern. Über die wahren Umstände ihrer Bekanntschaft mit António hatte sie sich Henrique gegenüber ausgeschwiegen.
»Er hat uns übrigens in der kommenden Woche zu sich nach Hause eingeladen, in seine neue Wohnung in Flamengo.«
»Wie nett.«
»Ja, er hat nach seiner Rückkehr aus Frankreich eine Weile bei seinen Eltern gewohnt, aber mittlerweile hat er eine recht ansehnliche Bleibe gefunden, die er mit uns und ein paar anderen alten Freunden einweihen möchte. Es ist ein hochmodernes Gebäude, mit Fahrstuhl und allem Drum und Dran. Und mit Blick auf die Bucht. So etwas in der Art schwebt mir für uns auch vor.«
»Lebt er dort allein?« Ana Carolina hoffte, dass die Frage möglichst beiläufig klang.
»Ich denke schon. Von einer Ehefrau wüsste ich bestimmt etwas. Obwohl es da eine junge Frau gibt, die … aber das geht uns ja nichts an, solange er sie uns nicht vorgestellt hat.«
»Nein, das tut es nicht.« Ana Carolinas Puls ging schneller. Er hatte also eine Mätresse. Das gefiel ihr nicht, obwohl sie wusste, dass es ihr hätte gleichgültig sein müssen.
»Du kommst also mit? Ich hatte ein wenig Angst davor, dass du … nun ja, dass du seine Gesellschaft vielleicht nicht wünschst, weil er ein Carvalho ist. Ich darf für uns beide zusagen?«
»Bitte, Henrique, für was hältst du mich?«
Er lächelte sie schuldbewusst und zugleich ein wenig schelmisch an. »Ich wusste, dass du so reagieren würdest. Also, dass du dir trotz der, ähm, Vorbehalte deiner Mutter deine eigene Meinung bilden möchtest. Ich habe bereits zugesagt.«
Und so kam es, dass sie nun,
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