Unter den Sternen von Rio
wenige Tage nach diesem Gespräch, auf dem Weg zu António Carvalho waren, obwohl Ana Carolina in letzter Sekunde einen Migräneanfall vorgetäuscht hatte. Die Vorstellung, ihr Bild von dem charmanten und geheimnisvollen Pariser Antoine gegen das eines schnöden Antónios aus Rio eintauschen zu müssen, von dem sie zu viel wusste, als dass er noch hätte aufregend sein können, irritierte sie. Sie wollte nicht wissen, wie er wohnte. Sie wollte nicht wissen, wie seine Geliebte aussah. Sie wollte keine Anekdoten aus einer Vergangenheit hören, die er mit Henrique geteilt hatte. Gleichzeitig brannte sie darauf, alles, aber auch alles über den Mann zu erfahren, egal wie unbedeutend es sein mochte.
»Geht es dir besser?«, erkundigte Henrique sich.
Ana Carolina nickte müde.
»Siehst du. Eine kleine Autofahrt, ein wenig frische Luft und die Aussicht auf einen netten Abend unter Freunden reichen meist schon.«
Abermals nickte sie. Was wirklich geholfen hatte, war ein neuerlicher Streit ihrer Eltern gewesen, der diesmal so laut war, dass sie in ihrem Zimmer alles mitbekam. Das war noch furchtbarer als die Aussicht auf eine Begegnung mit António, so dass sie sich von Henrique hatte mitschleppen lassen.
»Aber wir bleiben nicht lang, oder? Mir geht es wirklich nicht besonders gut. Ich weiß nicht, vielleicht habe ich etwas Unbekömmliches gegessen.«
»Aber nein, Liebste. Wenn es dir nachher nicht besser geht, bringe ich dich selbstverständlich nach Hause.«
»Danke«, hauchte Ana Carolina so matt, als läge sie schon auf dem Sterbebett.
Henrique parkte direkt vor dem Gebäude. Er drückte dem Portier ein paar Münzen in die Hand und gab ihm zu verstehen, dass er auf den Wagen aufpassen solle. Der Portier führte sie durch eine riesige, mit Marmor verkleidete Halle zu dem Fahrstuhl. Dort stand ein livrierter Junge, kaum 16 Jahre alt, der für das Schließen der Ziehharmonika-Gitter sowie das Betätigen der Schalter zuständig war. Auch dieser erhielt ein paar Centavos. Der Lift setzte sich ruckelnd in Bewegung, und ein Zeiger auf einer Etagen-Uhr zeigte an, wo sie sich gerade befanden. Sie hielten im zwölften Stock. Es war die oberste Etage, eine
cobertura.
Auch im Flur dominierten Marmor und unaufdringliche Eleganz. Ein dicker Orientteppich verhinderte, dass ihre Absätze so laut klackerten wie zuvor in der Lobby, und die indirekte Beleuchtung sorgte für ein warmes Licht.
Henrique klingelte an der Wohnungstür, die nur wenige Sekunden später von einem Hausmädchen geöffnet wurde. Bei dem »Mädchen« handelte es sich um eine ältere, dunkelhäutige Frau in weißer Schürze und mit Häubchen. Diese führte die Besucher in einen geräumigen Vorraum, wo sie sie bat, einen Moment zu warten. Dann holte sie den Hausherrn, der mit seinen anderen Gästen im Salon weilte.
»Henrique, Ana Carolina!«, rief António. »Wie schön, dass ihr es noch hierher geschafft habt. Ich hatte schon Angst, dass ihr um diese Zeit gar nicht mehr auftaucht.«
Sie waren in der Tat spät dran. Aber auch nicht so spät, dass er es hätte erwähnen müssen. Ana Carolina beschlich der Verdacht, dass António vielleicht ebenfalls ein bisschen nervös war.
»In Rio nimmt man es mit der Pünktlichkeit nicht so genau. Vielleicht hast du das in Europa vergessen«, meinte Ana Carolina mit einem winzigen ironischen Unterton, den nur António hätte heraushören – und deuten – können.
Sie waren bereits kurz nach ihrem zufälligen Zusammentreffen auf dem Corcovado zum Du übergegangen, nachdem Henrique sie dazu genötigt hatte.
»Meine anderen Freunde müssen allesamt untypische
cariocas
sein, sie sind nämlich schon lange da. Kommt herein, ich stelle sie euch vor.«
Sie folgten António in einen Salon, der sparsam, aber dabei überaus edel möbliert war. Einige wenige kostbare Antiquitäten teilten sich den Raum mit hochmodernen Sitzmöbeln aus Chrom und Leder, und an den Wänden hingen keine Gemälde, sondern gerahmte technische Zeichnungen von Flugapparaten aus verschiedenen Epochen. Die Anwesenden passten rein äußerlich perfekt zu der Einrichtung. Sie waren modisch gekleidet, die Frauen trugen Topfhüte auf ihren Bubiköpfen, die Männer seitlich gescheiteltes und pomadisiertes Haar. Alle hatten sehr bleiche Haut, wie es zurzeit modern war. Wie
cariocas,
Einwohner von Rio, wirkten sie gar nicht, sie hätten auch Europäer sein können. Viele Damen rauchten, aber die Luft war trotzdem gut, denn die großen Fenster waren geöffnet
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