Unter den Sternen von Rio
sollte es wohl so sein. Sie verabschiedete sich artig, holte sich von jedem ihr Gutenachtküsschen und tappte auf Zehenspitzen nach oben in das Zimmer, das sie sich mit ihrer großen Schwester Bel teilte.
Kaum hörten ihre Eltern, wie sich die Tür hinter Lara schloss, sahen sie einander streitlustig an.
»Du machst es dir einfach«, fauchte Neusa leise. »Du vertreibst dir die Abende auf angenehme Weise in der Stadt, während ich mich rund um die Uhr mit den Kindern herumschlagen muss. Weißt du, was Lulu heute wieder angeschleppt hat?«
Lulu war ihr 13 -jähriger Sohn, der bisher noch keinerlei Anzeichen einer pubertären Rebellion an den Tag gelegt hatte.
»Woher sollte ich?«, flüsterte Felipe zurück.
»Einen dreibeinigen Welpen! Dieses Viech hat das ganze Haus verdreckt, nachdem Lulu ihn mit Sahne, Käse und
carne seca
gefüttert hatte. Und wer musste die Schweinerei wohl wieder wegmachen?«
»Dona Fernanda?«, fragte Felipe zurück, obwohl er genau wusste, dass dies den Unmut seiner Frau nur noch mehr anstacheln würde.
»Ha! Natürlich, das denkst du ja immer, dass ich, dein geliebtes Eheweib, von morgens bis abends faul herumliege und mich von meiner Schwiegermutter bedienen lasse, nicht wahr? Aber so ist es nicht, mein Lieber, ganz und gar nicht. Ich habe geputzt, habe den Welpen vor die Tür gesetzt und mir seitdem die beleidigte Miene Lulus ansehen müssen, der mich für eine Teufelin hält. Ich weiß nicht, woher der Junge diese abartige Tierliebe hat.«
»Die Katze, die er vor einem halben Jahr aufgelesen hat, kam dir aber doch sehr gelegen.«
»Ja, weil sie nicht verkrüppelt war und außerdem fleißig Mäuse gefangen hat. Aber was soll man mit einem dreibeinigen Hund anfangen?«
Ihn lieben, dachte Felipe. Ihn verhätscheln, mit ihm schmusen oder ihm Kunststückchen beibringen. Vielleicht hätte Lulu ihn ja sogar zu einem Wachhund erziehen können. Aber er sagte nichts von alldem. Er war müde, und er wusste, dass er in einem Streit mit seiner Frau nie gewinnen konnte. Letztlich lief immer alles darauf hinaus, dass sie ihm vorwarf, ihr Leben ruiniert zu haben, weil er ihr so früh ein Kind gemacht hatte. Und im Grunde konnte er sie verstehen, denn umgekehrt warf er ihr ja praktisch das Gleiche vor – ohne es allerdings je laut auszusprechen.
»Ich gehe jetzt besser ins Bett«, sagte Felipe.
»Ja, tu das. Wie du es ja immer tust, wenn ich dir erzähle, was du nicht hören willst«, zischte Neusa. »Anstatt wie ein Mann zu handeln und Bel nach Hause zu zerren, legt sich der feine Senhor lieber schlafen. Wenn Bel demnächst schwanger heimkommt, dann kannst du stolz darauf sein, dass du nicht nur mein, sondern auch ihr Leben versaut hast.«
Bel jedoch war klüger, als ihre Mutter ahnte. Zwar genoss sie die bewundernden Blicke der Männer, und als prüde hätte sie sich auch nicht gerade bezeichnet, aber sie hatte keineswegs vor, das Schicksal ihrer Mutter zu teilen und mit 17 zu heiraten. Sie hatte andere Pläne. Bel träumte davon, als Tänzerin und Sängerin Furore zu machen. Was diese Josephine Baker konnte, konnte sie schon lange! Bel hatte zufällig einen Artikel in einer der vielen Zeitungen gelesen, die ihr Vater immer mit nach Hause brachte und in denen sie gelegentlich blätterte. Der Autor des Beitrags regte sich über die Show »La Revue Nègre« auf, die in Paris gegeben wurde, an der Bel aber gar nichts Anrüchiges finden konnte. Im Gegenteil, sie fand die Geschichte inspirierend. Wenn man in Paris als halbnackte
mulata
einen solchen Erfolg haben konnte, warum dann nicht auch in Rio? Und wenn sie erst einmal genügend Geld für eine Schiffspassage verdient hatte, dann würde sie nach Europa reisen und dort reich und berühmt werden.
So sahen Bels Pläne aus, und in ihnen war absolut kein Platz für Ehemann und Kinder. Die Burschen, die ihr zu nah auf die Pelle rückten, wies sie alle ab, und das auf so geschickte und charmante Weise, dass die jungen Männer sie nur noch mehr anhimmelten. Manch einer hatte versucht, sie mit Alkohol gefügig zu stimmen, aber auch das funktionierte bei ihr nicht: Sie trank – genau aus diesem Grund – keinen Tropfen Alkohol, ebenso wenig wie sie rauchte oder sich anderen Lastern hingab. Sie hatte genügend Leute gesehen, die von zu viel
cachaça
aufgedunsen waren und vom übermäßigen Tabakkonsum kratzige Stimmen hatten und kurzatmig wurden oder vom Kautabak fleckige Zähne bekamen. Das konnte sie sich nicht leisten. Wenn sie ihren Traum
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