Unter den Sternen von Rio
ihnen geworden war. In den sogenannten besseren Kreisen sprach sich schnell herum, was einer der Ihren so trieb. »Cândida und Virgílio haben vor zweieinhalb Jahren geheiratet und haben schon drei Kinder – und es sind keine Zwillinge darunter … Es heißt, eines sei hässlicher als das andere, was bei diesen Eltern ja kein Wunder ist. Und Filiberto …«
Ana Carolina berichtete alles, was sie wusste. Im Lauf ihrer Erzählung fielen ihr weitere Namen ein, und auch von diesen alten Bekannten schilderte sie deren Werdegang. Es war wenig Überraschendes geschehen. Die meisten Leute hatten genau das getan, was man von ihnen erwartete oder wozu sie erzogen worden waren. Ein einziger junger Mann war ausgeschert und hatte, obwohl er sich als Alleinerbe einer Privatbank ins gemachte Nest hätte setzen können, eine Karriere als Künstler eingeschlagen. Von diesem munkelte man außerdem hinter vorgehaltener Hand, dass er den Umgang mit Männern bevorzuge. Diese Geschichte hatte zunächst hohe Wellen geschlagen, es war der perfekte Skandal für die katholische Oberschicht Brasiliens gewesen. Heute hörte man kaum noch etwas von ihm.
Ana Carolina und Marie schwatzten und vergaßen die Zeit. Erst als die Männer von ihrem Ausflug zurückkehrten, durchnässt bis auf die Knochen und überraschend gut gelaunt, hörten sie auf mit ihrem Getratsche und gaben sich geselliger. Es wurden Kaffee und Likör gereicht, und zu viert spielten sie ein paar Runden Rommé und Canasta, die alle Henrique gewann. Am Abend dinierten sie zusammen mit Ana Carolinas Eltern, danach gab es eine große Bescherung. Die Kisten, in denen Marie die zahlreichen Geschenke aus Europa transportiert hatte, waren erst jetzt vollständig geöffnet und gesichtet worden. Es war ein wahres Fest! Da gab es feinste Pfeifen und Manschettenknöpfe für León, zarte Tischwäsche und ein Opernglas mit modernster Optik für Vitória, elegante Schildpattkämme, Seidenstrümpfe sowie die allerneuesten Modemagazine für Ana Carolina. Darüber hinaus hatten Marie und Maurice noch ein Dutzend Flaschen erlesenen Weins und mehrere Dosen mit echter Foie gras mitgebracht, außerdem ein ganzes Sortiment an weiteren konservierten Delikatessen, die in den Tropen schwer zu bekommen waren, wie etwa getrocknete Steinpilze oder Himbeerkonfitüre. Sogar an Ana Carolinas heißgeliebte Vichy-État-Pastillen hatte Marie gedacht, sie hatte gleich ein Dutzend der hübschen Blechdöschen mitgebracht.
»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, Marie«, sagte Dona Vitória.
»Du kennst doch meine Mutter …«, kam es zurück.
Oh ja, dachte Vitória. Auch wenn sie einander in den vergangenen 25 Jahren nur wenige Male gesehen hatten, hatte die Innigkeit ihrer Freundschaft nicht nachgelassen. Sie korrespondierten häufig, und neben all den schönen Geschenken hatte Joana ihrer Tochter auch einen Brief für sie mitgegeben. Vitória hatte ihn am Vorabend erhalten und ihn seitdem mehrfach gelesen.
Liebe Vita,
nun sind sie also da, Deine Nichte und ihr Göttergatte. Ich denke, sie werden Dir nicht allzu sehr auf die Nerven gehen, denn sie können sich sehr gut allein beschäftigen …
Meine Güte, waren wir früher auch so? Die Zeit zerrinnt einem zwischen den Fingern, und man vergisst vieles. Anderes hat man dagegen in so lebhafter Erinnerung, als sei es erst gestern geschehen. Keine Bange, Vita, ich werde Dich nicht mit Fragen belästigen, die mit »weißt Du noch« beginnen. Natürlich weißt Du noch. Im Übrigen können wir in alten Zeiten schwelgen, wenn wir uns sehen. Es ist ja gottlob nicht mehr lange hin – die Hochzeit soll doch im Mai stattfinden, oder nicht? Ich habe noch gar keine Einladung erhalten.
Werden wir Gelegenheit haben, nach Boavista zu fahren? Ich denke oft an die guten, aber auch die schlechten Tage, die wir dort verbracht haben, sowie an die Kraft, die uns das Haus und die frische Luft gegeben haben. Marie und Maurice werden dem Landleben sicher nicht viel abgewinnen können, sie zieht es eher in die großen Metropolen. Sie wollen über São Paulo und Montevideo nach Buenos Aires reisen. Tango ist der letzte Schrei in Paris, wer hätte das gedacht? Ich selber mache mir gar nichts daraus, ich freue mich vielmehr auf die viel fröhlichere brasilianische Musik. Ein wenig mehr Lebensfreude täte uns hier in Europa ganz gut.
Ach, Vita, entschuldige, ich schweife ab und behellige Dich mit meinem Genörgel. Das ist der schreckliche Winter, an den ich mich auch
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