Unter den Sternen von Rio
außerdem, dass du mir sagst, wer dieser Rosenkavalier ist. Henrique ist es ja offenbar nicht. Kennst du den Mann? Muss ich mir Sorgen machen?«
»Nein, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wie kommst du nur darauf? Hast du nicht mitbekommen, dass ein anderes Mädchen ebenfalls Opfer seiner Aufmerksamkeiten wurde? Es handelt sich um einen Verrückten.«
»Glaubst du nicht auch, dass der Urheber der zweiten Serie ein Nachahmungstäter sein könnte?«
Ja!, wollte Ana Carolina schreien. Ja, und ob sie das glaubte. Die Idee mit den Rosen konnte nur von einem stammen, und der hätte nie die Stillosigkeit besessen, gleich zwei junge Frauen damit zu beglücken. »Nein«, antwortete sie lahm.
»Na dann. Hoffen wir, dass man den Kerl erwischt, bevor sein Wahnsinn noch bedrohlichere Züge annimmt.« Damit legte Dona Vitória ihre Handarbeit beiseite, erhob sich und verließ den Raum, nicht ohne ihrer Tochter zuvor einen letzten forschenden Blick zuzuwerfen.
Als Ana Carolina endlich allein war, schlug sie die Hände vors Gesicht, als müsse sie weinen. Doch es kamen keine Tränen. Vielmehr wuchs in ihr der unbändige Wunsch, António endlich zur Rede zu stellen. Was Antónios beharrlichem Werben nicht gelungen war, das hatten der ewige Regen und die erzwungene Nähe zu ihrer Familie geschafft: Sie hatten sie zermürbt.
Ana Carolina würde mit António sprechen. Bald.
12
F ernando Pereira besaß einen sicheren Instinkt dafür, wer ein Star werden konnte und wer nicht. Als er die Aufnahmen gesehen hatte, in denen Bel als Hausmädchen plötzlich aus der Rolle fiel und sich als Obst balancierende Sambatänzerin in den Vordergrund drängte, hatte er das Potenzial dieses Mädchens sofort erkannt. Nur wüsste er gerne noch, ob sie auch singen konnte. Denn in diesem Fall konnte er sie leicht zu einem Radiostar aufbauen – unterstützt von Liveauftritten in den namhaftesten Variété-Theatern, Kasinos und Nachtclubs. Und natürlich im Karneval.
Ihre Idee, die tropischen Früchte auf dem Kopf aufzutürmen, war geradezu genial. Für schlichtere Gemüter war es einfach ein hübsches Spektakel, die anspruchsvolleren Zuschauer dagegen würden darin eine ironische Auseinandersetzung mit der brasilianischen Kultur sehen. Perfekt. Bel würde, ganz gleich vor welchem Publikum, Furore machen. Denn eine schöne junge Frau, die sensationell gut tanzte, sah sich jeder gerne an.
»Können Sie singen?«, fiel er mit der Tür ins Haus, als sie ihn endlich einließ.
»Nur wenn ich nicht halb verhungert bin, so wie jetzt gerade.«
Er reichte ihr die
salgadinhos,
die kleinen herzhaften Delikatessen, die er in weiser Voraussicht mitgebracht hatte. Sofort machte Bel sich darüber her. Sie schlang sie so gierig und in so großen Happen hinunter, als sei er gar nicht anwesend. Hm, dachte der
produtor,
das mochte ein Zeichen für Selbstbewusstsein sein. Oder auch eines für sehr schlechte Manieren.
»Es ist der Hunger«, beantwortete Bel die ungestellte Frage. »Ich habe kaum Geld, ich kann mit meinem blöden Humpelfuß nicht so ohne weiteres auf die Straße, und die Vermieterin ist eine böse alte Hexe, der es Spaß macht, mich zu quälen. Sie müssen Gedanken lesen können, Seu Pereira.«
»Ja. Wussten Sie das nicht?«
Bel schmunzelte und stopfte sich eine halbe
empada
auf einmal in den Mund, so dass sie ihn beim Kauen nicht mehr richtig schließen konnte. Als sie das halbgekaute Törtchen hinuntergeschluckt hatte, fragte sie: »Und was lesen Sie sonst noch so in meinen Gedanken?«
»Ich weiß, dass Sie ehrgeizig sind. Das ist gut. Ich sehe, dass Sie sehr hübsch sind. Das heißt, wenn Sie nicht gerade schlingen wie ein Raubtier. Und ich glaube, dass Sie begabt sind – allerdings habe ich Sie noch nie singen hören. Können Sie es?«
»Wofür braucht man im Stummfilm jemanden, der singen kann?«
»Hören Sie mal, Kindchen. Beantworten Sie doch einfach meine Frage einmal nicht mit einer Gegenfrage. Ist das zu viel verlangt?«
»Ja.«
»Es ist zu viel verlangt?«
»Nein. Ich meinte: Ja, ich kann singen. Wollen Sie es hören?«
»Sicher. Jetzt, hier?«
»Warum nicht? Es ist zwar ein bisschen schwieriger, ohne die Begleitung von Instrumenten zu singen, aber ich traue mir das schon zu.«
»Na dann. Worauf warten Sie?«
Bel stand auf, klopfte sich die Krümel ihrer allzu kurzen Mahlzeit vom Kleid und wischte sich den Mund mit der Hand ab. Mit der Zunge fischte sie zwischen den Zähnen nach Speiseresten, denn nichts war peinlicher,
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