Unter den Sternen von Rio
stattdessen die zahlreichen Kirchen der Hauptstadt abklappern.
»Er ist niedlich, dein Henrique«, platzte Marie denn auch gleich heraus, kaum dass sie allein waren. »Vielleicht ein bisschen zu … konservativ für dich?«
»Langweilig« wollte sie bestimmt sagen, dachte Ana Carolina. »Aber nein«, sagte sie, »er ist nur schüchtern. Man muss ihn besser kennenlernen, um seine wahren Qualitäten zu erkennen.«
Marie lachte lauthals los. »Die wahren Qualitäten? Die sind aber nicht etwa körperlicher Natur?«
»Also bitte …«
»Nein, versteh mich nicht falsch. Bei Maurice ist es doch so ähnlich. Wenn er im Bett nicht so, na ja, so unersättlich wäre, hätte ich ihn schon längst zum Teufel geschickt.«
»Ehrlich?«, fragte Ana Carolina. Sie wollte eigentlich gar nicht genauer über die intimen Begegnungen der beiden nachdenken. Dagegen interessierte es sie, ob der Liebesakt wirklich eine solche Macht auf die Leute ausübte. Sie hatte davon gehört, konnte es sich aber nicht recht vorstellen.
»Ja, ehrlich. Wenn ich nur seine Haut berühre und seinen Duft einatme, überkommt mich ein so enormes Bedürfnis, dass …«
Es folgte eine detaillierte Aufzählung all der Dinge, die sich im Ehebett der beiden abspielten. Ana Carolina trat die Schamröte ins Gesicht. Nichts davon hatte sie selber je ausprobiert, und sie hatte auch nie den Drang verspürt, es zu tun. Manche Praktiken fand sie regelrecht ekelhaft, wie etwa die, mit dem Mund … Oh Gott! Sie war nicht einmal imstande, diese Dinge zu denken. Würde Henrique etwa auch solche Ferkeleien von ihr erwarten?
»Marie, das ist widerlich! Im Übrigen hast du mich gründlich missverstanden. Ich heirate doch Henrique nicht wegen dem, was er in der Hose, sondern wegen dem, was er im Kopf hat. Und im Herzen.«
»Ach du liebe Güte, Ana Carolina. Glaubst du wirklich an den ganzen Mist von Liebe, Treue, Ehrerbietung und so weiter? Du tust mir leid. Ich meine, wer heiratet schon aus
Liebe?
Wenn es wenigstens wegen des Geldes wäre. Aber ich glaube, in der Hinsicht ist dein lieber Henrique auch nicht gerade ein Glücksgriff, oder? Er wirkt in seinen zugeknöpften Anzügen so
bourgeois.
«
»Du täuschst dich. In ihm steckt mehr, als man glaubt. Ich jedenfalls bin vollauf zufrieden mit ihm. Er ist klug und tüchtig. Er ist ehrlich und treu. Er ist zartfühlend und zärtlich. Er ist …«
»… der Schwiegersohn, den sich deine Eltern wünschen.«
»Ja, auch das.«
»Na also.«
»Was heißt hier na also?«, forschte Ana Carolina pikiert nach. Es passte ihr ganz und gar nicht, dass Marie sich als die große Expertin in Sachen Ehe aufspielte, obwohl sie mit diesem erbärmlichen Wicht verheiratet war, der Henrique nicht das Wasser reichen konnte. Am liebsten hätte sie Marie all die Eigenschaften aufgezählt, die ihr schon am ersten Tag an Maurice unangenehm aufgefallen waren. Aber sie hielt sich mit ihrer Kritik zurück – immerhin war sie ziemlich neugierig auf die Meinung ihrer Cousine.
»Du hast ihn dir nur ausgesucht«, führte Marie nun weiter aus, »weil er derjenige Verehrer von allen ist, der am wenigsten Ecken und Kanten hat. Er tut keinem weh. Er passt sich perfekt an. Er sieht sogar gut aus. Aber, Caro: Er ist so unsagbar langweilig.«
»Ist er nicht. Das sieht nur jemand so, der selber oberflächlich ist und nicht imstande, hinter die Fassade zu blicken. Außerdem: Wer sagt denn, dass er als Liebhaber nicht auch so feurig ist wie dein Maurice?«
»Wenn du meinst …«
Die perfekte Harmonie zwischen den Cousinen hatte unversehens einen ersten feinen Riss bekommen. Keine von beiden hatte sich das so vorgestellt. Die Realität holte sie schneller ein als erwartet. In der Erinnerung hatten sie die jeweils andere zur idealen Freundin verklärt, zur Vertrauten, zur geliebten Schwester, mit der man sich auch ohne Worte verstand. In der Wirklichkeit sah es anders aus – und hatte es immer anders ausgesehen. Dennoch waren beide noch nicht bereit, von dem Wunschbild ihrer Freundschaft abzurücken, so dass Ana Carolina bereitwillig auf den Themenwechsel einging, den Marie wenig subtil einleitete.
»Erzähl mir lieber etwas von unseren damaligen Bekannten. Was macht Filiberto? Hast du noch Kontakt zu Juliana? Und wie geht es der armen Cândida? Hat sie ihren Virgílio bekommen?«
Ana Carolina schnaubte leise. Die meisten dieser Leute hatte sie schon fast vergessen. Dennoch hatte sie auch ohne den direkten Kontakt mitverfolgen können, was aus
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