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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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nach fast dreißig Jahren nicht gewöhnen kann. Du glaubst nicht, wie sehr ich mich auf die Hitze in Rio freue.
    Ich gebe Marie ein paar Geschenke für Euch mit. Solltest Du irgendetwas Spezielles wünschen, das Du in Brasilien nicht bekommst, lass es mich bitte rechtzeitig wissen.
    Ich drücke Dich und schicke Dir viele schwesterliche Küsse.
    In Liebe
    Joana
     
    Vitória wunderte sich, wie man so viel schreiben und so wenig erzählen konnte. Zwischen den Zeilen las sie allerdings so einiges: Joana mochte ihren Schwiegersohn nicht. Sie wurde immer sentimentaler. Und sie vertrug das europäische Klima nicht – wahrscheinlich war sie von Rheuma oder einer ähnlichen Krankheit geplagt, die vor allem in der Kälte auftrat, und wollte sie, Vitória, nicht mit Schilderungen ihrer Leiden belästigen. Brav. Sie wollte auch nichts darüber hören. Es war schlimm genug, alt zu werden, da musste man sich nicht noch zusätzlich in seine Wehwehchen hineinsteigern. Sie selber verschonte ihre Mitmenschen ja auch mit Klagen über ihre stark verminderte Sehfähigkeit oder die nachlassende Geschmeidigkeit ihres Körpers. Des Weiteren las sie aus Joanas Brief heraus, dass sie gar zu gerne nach Boavista fahren würde, auf die alte Kaffee-Fazenda der Familie, um sich dort in traurigen Erinnerungen zu suhlen. Aber das würde Vitória zu verhindern wissen. Man musste nach vorn schauen, wenn man nicht an den Prüfungen des Lebens zerbrechen wollte.
    Auch ein Besuch von Pedros Grab würde ihr nicht erspart bleiben. Sosehr Vitória ihren Bruder – Joanas ersten Mann – geliebt hatte, so sehr verabscheute sie Friedhöfe. Eine Steintafel und ein Blumenbeet wurden dem Andenken an die Toten überhaupt nicht gerecht – da gedachte sie Pedros doch lieber bei schöneren Gelegenheiten. Manchmal lächelte sie beim Schachspiel und der Erinnerung daran, wie er früher dabei gemogelt hatte. Manchmal erwischte sie sich auch dabei, wie er sich in ihre Gedanken schlich, wenn sie bestimmte Gewürze schmeckte. Der gepfefferte Kakao ihrer einstigen Köchin Luiza hatte ihr und Pedro Tränen in die Augen getrieben – war aber das Köstlichste und Tröstlichste, was sie je getrunken hatte.
    »Wer hat Lust auf eine schöne Tasse heiße Schokolade?«, zwang sie sich selber wieder in die Gegenwart zurück.
    »Nein danke,
tia
«, sagte Marie. »Ein Kaffee wäre mir lieber – der macht nicht so dick.«
    »Du bist spindeldürr, Schätzchen«, entgegnete Vitória.
    »Ja, und das soll auch so bleiben. Die aktuelle Mode verzeiht absolut keine Sünde. Ich verstehe gar nicht, wie ihr alle so schlank bleibt, obwohl ihr andauernd fettes Essen zu euch nehmt, Berge an Zucker in euren Kaffee gebt, täglich diese süßen Törtchen vertilgt und auch noch regelmäßig Likör trinkt. Ich würde bei dieser Lebensweise in kürzester Zeit aus dem Leim gehen.«
    »Wir spielen viel Tennis«, erklärte Ana Carolina. Dabei wusste sie genau, dass es an der körperlichen Ertüchtigung allein nicht liegen konnte. Sie hatte seit Wochen keinen Tennisschläger mehr angerührt. »Möchtest du es lernen? Wir könnten ein gemischtes Doppel spielen, du und Maurice gegen Henrique und mich.«
    »Lass uns die Männer tauschen – Henrique spielt mit mir, Maurice mit dir. Sonst haben wir ja gar keine Chance.«
    »Einverstanden. Allerdings müssen wir warten, bis der Regen aufhört.«
     
    Doch darauf warteten sie vergeblich. Es regnete unaufhörlich. Es kamen solche Wassermassen vom Himmel, dass die Hütten der Armenviertel bereits fortgeschwemmt und Notunterkünfte errichtet worden waren. Die Kanalisation kam mit den Fluten nicht zurecht, in zahlreichen Gegenden stand das Wasser kniehoch. Autos ersoffen in riesigen Seen, die sich auf den Straßen gebildet hatten. Wäsche trocknete nicht mehr richtig, Wohnungen wurden nicht vernünftig belüftet, überall bildete sich Schimmel. Es war nicht nur für Besucher die Hölle, sondern auch für die Cariocas, darunter insbesondere die Karnevalsfreunde und die Ladenbesitzer. Niemand schlenderte freiwillig durch die Stadt, um sich die Auslagen in den Schaufenstern anzusehen, denn Schlammmassen ergossen sich über einst prachtvolle Avenidas. Wer nicht unbedingt ins Freie musste, blieb zu Hause. Es war die denkbar ungünstigste Wetterlage, um Touristen die Stadt zu zeigen. War Rio sonst ein glitzerndes Juwel, so glich es nun einem braunen Dreckklumpen.
    Nach zwei Tagen, in denen Maurice und Marie kaum etwas anderes hatten besichtigen können als die

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