Unter den Sternen von Rio
herumplagen mussten. Wie herrlich, dass der Sommer nur eine dreiwöchige Seefahrt entfernt lag.
Und dann, sie waren nur noch eine knappe Tagesreise von Rio de Janeiro entfernt, waren plötzlich Wolken aufgezogen. Marie empfand das als persönlichen Affront. Wie konnte man ein Paar in den Flitterwochen nur mit einem so tristen grauen Himmel begrüßen?
Versöhnt mit dem scheußlichen Wetter wurde sie jedoch, als der Empfang am Pier umso fröhlicher ausfiel. Alle waren sie gekommen: Ana Carolina und ihr Verlobter, Tante Vitória und Onkel León, ihre Cousins Pedro und Eduardo samt ihren Familien, dazu eine ganze Schar von Personal, das für das Gepäck zuständig war sowie für das Herumreichen der Champagnergläser. Es war eine richtige kleine Party, die da unter einem Vordach spontan inszeniert wurde und die alle Vorurteile der beiden Neuankömmlinge bestätigte: In Brasilien wusste man zu feiern.
»Ach, wie entzückend von euch allen, uns hier zu begrüßen!«, rief Marie aus. Sie war vor Rührung in Tränen ausgebrochen.
Dass Pedro und Eduardo nicht eigens nach Rio gereist waren, um ihre fast fremde Cousine zu empfangen, musste man Marie ja nicht sagen, dachte Ana Carolina. Die beiden waren mit ihren Familien hierhergekommen, um Karneval zu feiern. Es waren nur noch wenige Tage bis zu dem großen Fest.
»Lass dich drücken, du alte Heulsuse«, ging Ana Carolina als Erste auf die Besucherin zu, bevor sie Maurice förmlich die Hand reichte. »Hallo, Maurice. Dann bist du jetzt wohl so etwas Ähnliches wie mein Schwager, was? Willkommen in der Familie.«
»Äh, danke.« Er schwankte ein bisschen, was, wie Ana Carolina aus eigener Erfahrung wusste, an dem ungewohnten festen Boden unter den Füßen lag.
»Es wurde höchste Zeit, dass du kommst«, sagte nun Dona Vitória in gespielter Strenge zu ihrer Nichte. »Dein Portugiesisch hat ja schon einen ganz starken französischen Einschlag.«
»Ja, ich finde das sehr charmant«, warf nun Don León ein.
»Ach,
tio,
immer noch derselbe alte Schwerenöter, was?«, flachste Marie, als habe der Status der verheirateten Frau ihr zugleich die Sprechweise einer Matrone verliehen. Normalerweise hätte sie sich solche Sprüche, behäbig und kokett zugleich, ihrem Onkel gegenüber nicht herausgenommen. Doch sie hatte Mühe, sich ihren Schrecken über sein Äußeres nicht anmerken zu lassen. Er war alt geworden in den sechs Jahren, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte.
In diesem Tenor ging es eine ganze Weile weiter. Es wurden Komplimente ausgetauscht und Grüße ausgerichtet, es wurde getrunken und geplaudert. Vor allem aber wurde gescherzt, um über das Gefühl der Fremdheit hinwegzutäuschen, das sich unweigerlich einschlich, wenn man einander lange Zeit nicht sah. Der arme Maurice stand immer ein wenig abseits. Da er kein Portugiesisch sprach und die große Familie sich nur gelegentlich an seine Gegenwart erinnerte – in der alle jedes Mal höflich Französisch sprachen –, bekam er wenig von dem mit, was da an Neuigkeiten ausgetauscht wurde. Es interessierte ihn auch nicht. Er hatte den dringenden Wunsch, allein auf seinem Zimmer zu sein. Diese Leute überforderten ihn mit ihrer Herzlichkeit und ihrer Lautstärke.
Kurz darauf, der Regen hatte inzwischen sintflutartige Ausmaße angenommen, brachen sie auf. Die Familienangehörigen wurden so auf die nur drei Automobile verteilt, dass sie in jedem Wagen eng aneinandergequetscht saßen und sich halbtot schwitzten. Wie das Personal samt Gepäck nach Hause kommen würde, entschlüsselte sich Marie und Maurice nicht. Aber auf wundersame Art und Weise waren die Koffer bereits auf ihrem Zimmer gelandet, als sie sich endlich dorthin zurückziehen durften. Trotz aller Müdigkeit und eines stark erhöhten Alkoholpegels gelang es den beiden noch, sich ihrer Lieblingsbeschäftigung hinzugeben.
Am nächsten Tag fanden die beiden Cousinen erstmals Gelegenheit, unter vier Augen miteinander zu reden. Maurice hatte man in die Obhut Henriques gegeben, der mit ihm die wichtigsten Sehenswürdigkeiten Rios besuchen sollte. Allen war bewusst, dass weder Zuckerhut noch Corcovado bei dem nicht nachlassenden Regen viel hermachen würden – beide bestachen vor allem mit der grandiosen Aussicht vom Gipfel aus. Der Weg auf die Gipfel der beiden Berge war ebenfalls beliebt bei Ausflüglern, doch bei strömendem Regen in der Gondel oder in der Zahnradbahn zu sitzen wäre nicht minder deprimierend. Vielleicht würden die beiden jungen Männer
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