Unter den Sternen von Rio
Chaplin-Imitation auf der Bühne gab ihr die Zeit, sich zu sammeln und zu beruhigen. Ihr Herz pochte heftig, und bevor sie sich zu den beiden Männern gesellte, wollte sie möglichst gelassen wirken.
»Henrique, ist das nicht dein Freund, ähm …«
»António, ja.«
»Hallo, António«, sagte Ana Carolina, sehr um Sachlichkeit ringend.
»Oh, guten Abend, Ana Carolina. Was stellst du denn dar heute Abend?«
»Erkennst du das nicht? Ich bin ein Schmetterling.«
»Also auch etwas, das fliegt. Magst du das Fliegen?«
»Ich … also ich weiß nicht, ich bin noch nie geflogen.« Damit hatte sie ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass Henrique nichts von ihren Eskapaden wusste.
»Bestimmt würde sie gerne einmal fliegen, nicht wahr, Liebling?«, sagte Henrique und versuchte, besitzergreifend seinen Arm um ihre Schulter zu legen. Es gelang ihm nicht, denn ihre Schmetterlingsflügel waren einer Umarmung im Weg, so dass die Geste unbeholfen und unnatürlich wirkte. Um davon abzulenken, fragte er seinen Freund: »Und du? Gehst du als Pilot? Was für eine verrückte Idee …«
»Ja, nicht wahr? Niemand geht als das, was er im wirklichen Leben ist. Insofern ist es schon originell.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Nun ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich hatte keine Zeit, mich um ein richtiges Kostüm zu bemühen. Und diese Maske hatte ich noch irgendwo herumliegen, von einem früheren Fest.«
Sie plauderten ein wenig über dies und das. Es war schwierig, sich zu unterhalten, denn der allgemeine Geräuschpegel war sehr hoch. Ana Carolina kam das nur gelegen. Ihre Einsilbigkeit fiel nicht weiter auf, und auch die hektischen roten Flecken, von denen sie glaubte, dass sie sich auf ihrer Haut gebildet haben müssten, waren in dem schummerigen Licht nicht zu sehen. Irgendwann ging António dann endlich zu einer anderen Gruppe von Leuten. Ana Carolina atmete auf. Es war eine schreckliche Situation, seinen Verlobten in Gegenwart von dessen bestem Freund so schamlos belügen zu müssen. Sie war froh, dass es vorüber war. Durstig trank sie ihr Champagnerglas leer und bat Henrique, ihr ein weiteres zu besorgen.
Es war kurz nach Mitternacht, als ihre Brüder Pedro und Eduardo sowie ihre Schwägerin Francisca zum Aufbruch drängten. Auch Henrique fand, dass es an der Zeit war zu gehen, dies jedoch mehr, um Ana Carolina vor weiterem Alkoholkonsum zu bewahren. Sie näherte sich bereits einem Zustand, in dem eine Blamage unausweichlich wäre. Doch Marie und Maurice wollten noch weiterfeiern. Nachtschwärmer, die sie waren, hatten ihnen die letzten Tage, als man wegen des Regens kaum vor die Tür konnte, zugesetzt.
»Geh du nur nach Hause, Henrique«, sagte Ana Carolina. »Ich leiste den beiden hier noch ein wenig Gesellschaft und sorge dafür, dass sie sicher heimkommen und sich nicht etwa auf dem Nachhauseweg verirren.«
Nein, das ging nicht, beschloss Henrique. Ganz gleich, wie müde er war, den betrunkenen Maurice würde er bestimmt nicht den Beschützer der beiden Damen spielen lassen.
»Ist schon gut. Ich bleibe gerne noch ein bisschen«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen.
»Ich kann mich auch um sie kümmern«, meinte António, der plötzlich neben ihnen aufgetaucht war und offenbar den letzten Teil ihres Gesprächs mitbekommen hatte.
Henrique schaute ihn verdutzt an. »Nein, nein danke, das kann ich dir wirklich nicht zumuten.«
»Ach was. Es macht mir überhaupt nichts aus. Im Gegenteil, es gäbe mir Gelegenheit, deine reizende Verlobte ein wenig näher kennenzulernen. Vielleicht schaffen wir damit ja diese alte Rivalität zwischen unseren Familien aus dem Weg.«
Ana Carolina beobachtete die beiden genau. Die Arglosigkeit Henriques und seine altmodische Ritterlichkeit rührten sie fast zu Tränen. Die Verlogenheit Antónios hingegen machte sie fassungslos. Wie konnte er seinen Freund so gemein hintergehen?
»Es ist doch eine gute Lösung, Henrique«, hörte sie sich selber sagen. »Du kannst dich hinlegen, wir vier toben uns aus, und für unsere sichere Heimkehr ist dank António ja auch gesorgt.« Kaum hatte sie den Vorschlag gemacht, bereute sie es schon. Was war nur in sie gefahren? Wenn António verlogen war, was war dann erst sie?
Böse. Verderbt. Durch und durch schlecht.
Und wieso fühlte sie sich dabei so gut?
15
B el betete. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass sie den Herrn im Himmel inständig um etwas bat, und es war ihr durchaus bewusst, dass ihre Bitte vor den
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