Unter den Sternen von Rio
Augen Gottes keine Gnade finden würde. Sie betete um ein Ende des Regens. Wenn sie es getan hätte, weil ihr all die Obdachlosen leidtaten, deren Hütten von den Fluten fortgerissen worden waren, oder weil sie mit den armen Bauern litt, deren Ernte bedroht war, ja dann … Aber sie wünschte sich endlich trockenes Wetter, damit ihr Auftritt gelang. Es ging ihr einzig und allein um sich selbst. Die kleinen Bauern und die gebeutelten Hüttenbewohner waren ihr herzlich egal. Wichtig war ihr nur, dass sie mit ihren Tanzschuhen nicht schon vor dem Umzug im Schlamm steckenblieb, dass die störende Palme auf der Ladefläche wieder abmontiert werden konnte und dass sich möglichst viele Schaulustige einfanden.
Als am Sonntag die ersten Sonnenstrahlen seit langem zu sehen waren, verlor Bel ihren Glauben an Gott endgültig. Entweder hatte er sie gehört und ihr den Wunsch erfüllt, dann handelte es sich eindeutig um einen ungerechten und selbstsüchtigen Kerl, der sich eine schöne Show ansehen wollte. Oder er hatte sie nicht gehört – und es wäre ja vollkommen nutzlos, um etwas zu bitten, was auch ohne ihn eintrat. Wie sie es drehte und wendete: Auf den lieben Vater im Himmel konnte man getrost verzichten.
Bel war erfüllt von einer alles verzehrenden Vorfreude auf den Abend. Alles in ihr summte, vibrierte, jauchzte, und die Sonne verstärkte dieses betörende Gefühl noch. Bel trällerte einen bekannten, uralten
choro
von Chiquinha Gonzaga, »Atraente«, das reinste Gute-Laune-Lied. Ja,
atraente,
attraktiv, fühlte sie sich heute auch, herrlich ausgeruht und voller Energie für das große Spektakel. Sogar ihr Fuß war nur noch halb so schlimm, nachdem ihr ein Arzt eine fast unsichtbare Bandage angelegt hatte. Senhor Pereira war so vorausschauend gewesen, ihr zwei Paar Tanzschuhe in verschiedenen Größen zu beschaffen, so dass sie an dem verletzten Fuß eine größere Nummer tragen konnte. Jetzt konnte eigentlich gar nichts mehr schiefgehen. Sie war bereit.
Felipe war froh, dass Augusto ein Auge auf Bel hatte. Der Knabe schien vernünftig und von gutmütigem Wesen zu sein. Wenn sie sich nur mehr solcher Freunde zulegen würde! Diese Beatriz, bei der sie gehaust hatte, war kein Umgang für ein Mädchen wie sie, und auch diese ganzen
Künstler
bedeuteten sicher einen schlechten Einfluss. Da war ihm ein fleißiger und ehrlicher Bursche wie Augusto tausendmal lieber, auch wenn er wusste, dass der arme Junge bei Bel keine Chancen hatte. So war es immer mit den Frauen: Sie verliebten sich ständig in die Falschen. Sie ließen sich von gutem Aussehen und Draufgängertum blenden, während sie die echten Tugenden bei einem Mann verschmähten, wenn er ihnen zu sehr den Hof machte. Aber ähnlich verhielt es sich natürlich auch umgekehrt. Männer begehrten Frauen, die unerreichbar waren, anstatt sich in die zu verlieben, die gut zu ihnen passten und ihnen ideale Ehefrauen wären.
Er selbst hatte sich nie richtig verliebt, war das zu fassen? Als junger Kerl war er mit Neusa ausgegangen, die ihm viel zu schnell viel zu viele Dinge erlaubt hatte. Vielleicht hatte sie es darauf abgesehen, von ihm ein Kind zu empfangen, schon möglich. Dennoch konnte er sie dafür nicht verachten, wie es manche seiner Freunde taten: Immerhin brauchte es ja zwei, um ein Kind zu zeugen. Er hätte einfach besser aufpassen müssen. Ihn selber traf also die eigentliche Schuld.
Und danach? Danach hatten das Eheleben, die Kinder und die Arbeit ihn aufgefressen. Er hatte gar keinen Kopf mehr für die schönen Dinge des Lebens gehabt. Einzig das Kino erlaubte ihm kleine Fluchten aus dem Alltag, und er genoss seine gelegentlichen Besuche im Filmtheater über alles. Wie diese Filme zustande kamen, darüber hatte er sich noch nie ernsthaft Gedanken gemacht. Nur mit den technischen Aspekten war er einigermaßen vertraut, auch interessierte er sich für die Weiterentwicklung der Cinematographen. Aber die Leute, die an einem Film beteiligt waren? Schauspieler, Regisseure, Maskenbildner und eben Laufburschen wie Augusto – die waren erst jüngst in sein Bewusstsein gerückt.
Und Bel war eine von ihnen. Bald wäre sie in einem Film zu sehen, hatte sie berichtet. Lachend hatte sie ihm erzählt, wie es dazu gekommen war, dass sich aus dem »Requisit«, das sie als Hausmädchen gewesen war, eine kleine, feine Rolle entwickelt hatte. Felipe konnte nicht anders: Er musste sie für ihren Schneid bewundern. Und immer wieder fragte er sich, welche Laune Gottes aus
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