Unter der Hand (German Edition)
Fischgasse ist der Boden glitschig wie Schlick, das Klirren der Biergläser vermischt sich mit den Rülpsern der Trinker zu einem ungehobelten Soundtrack, und allmählich bin ich satt. Verköstigt auf seltsam entrückte Weise – ich bin ja schließlich nirgends eingekehrt – im Vorbeiflug eigentlich und damit geerdet.
So, denke ich, liest man als Kind: auf Nahrungssuche, aber ohne einzukaufen. Lebensmittel eben.
Zurück zuhause, beschließe ich, den Abend damit zu verbringen, den Anfang zu verschieben, die Wiederaufnahme eines immerhin halbwegs gewöhnlichen Lebens auf den nächsten Morgen zu legen und meinen post-paradiesischen Jetlag vor dem Fernsehen auszukurieren.
Vier
Zu meinen Füßen bebt die Donnersbergerbrücke unter den vorbeidröhnenden Lastern, Bussen, Kleinwagen. Die Brücke ist einer der wenigen Orte in München, die sich anhören und anfühlen wie New York. Der Asphalt schuppt sich, Schlaglöcher und Eisenschwellen rhythmisieren den Lärm, alles ist von einer dicken Patina aus Verbrennungsrückständen, Staub und Pollen überzogen, in gelblichem Grau. Höllenlärm. Eigentlich kein Ort der Begegnung, eher der Überschneidung, der sich kreuzenden Wege: Viele vereinbaren diese Haltestelle als Treffpunkt für Mitfahrgelegenheiten, man erkennt die Aufbrechenden am unruhigen Blick, mit dem sie Autokennzeichen entziffern, als gäben die Kombinationen Aufschluss über den fremden Reisegefährten, der das Ziel teilt, sonst nichts. Neben mir, im brütend heißen Wartehäuschen mit der elektronischen Anzeige der Buslaufzeiten (der 53er kommt bereits seit sechs Minuten in null Minuten – solche Countdowns kennen nur die Stadtwerke), sitzt eine ältere Frau, die ich schon häufig gesehen habe, denn von dieser Haltestelle aus trete ich meist meinen Arbeitseinsatz an. Ich schätze sie auf knapp achtzig. Zum strengen Blick unter starken, schön geschwungenen Augenbrauen passt nicht recht die breite Nase, die dem Gesicht etwas Gutartiges und Argloses verleiht. Niemals hatte ich vorher daran gedacht, sie näher in Augenschein zu nehmen. Aber heute weiß ich sofort und ohne dass sie auch nur ein Wort sagt:
Ostpreußen
. Möglicherweise ist eine solche Erfassung meinem neuesten Auftrag, Vicos Anstiftung und der daraus resultierenden Spürsinnigkeit geschuldet.
Ostpreußen
fasst alles zusammen, was ich sehe: kräftige Füße, stämmige Knöchel, große Hände, schön geformt, in die Handflächen passen leicht zwei Kartoffeln, das plane Gesicht, das etwas von der Weite der Landschaft enthält, die das Wort, nein, der Klang des Worts Ostpreußen vor meinem inneren Auge entstehen lässt. Die Augen sind hell, von einem Grün, das es nur in der Nähe von Wasser gibt, ein transparentes Grün, ein Grün, das auf dem Einkaufszettel von Feen stehen würde unter dem Stichwort: Überlebensmittel.
Sie trägt Hosen, zu denen mir
Gabardine
einfällt; Genaues verbinde ich damit nicht, bügelfrei und Vergangenheit, dieselbe Kategorie wie Nylonhemden. Das kittelartige Oberteil ist geblümt, heitere Farben. Halbe Ärmel, die bis zu den Ellbogen reichen. Insgesamt eine solide Sommergarderobe, die den Willen zeigt, das heiße Wetter als schön anzuerkennen, ohne deswegen gleich in ärmellose Exzesse zu verfallen.
Wir reden ein wenig über den Streckenverlauf der beiden Buslinien, die Schmuddeligkeit des Wartehäuschens, die Folgen des Klimawandels, die meine Generation zu spüren bekommen werde, und ihre Enkel – wenn sie welche hätte. Ihr Blick ist sorgenvoll, aber nicht misstrauisch.
Auch im Bus sitzen wir nebeneinander, das Einsteigen war langwierig, sie erzählt mir von Schlaganfällen, die in den letzten Jahren das rechte Bein immer stärker beeinträchtigt hätten.
Ihre große Handtasche rutscht ständig von der Schulter, im Sitzen nimmt sie den ganzen Platz auf dem Schoß in Anspruch. Meine Nachbarin legt ihre Hände gefaltet darauf, eine Geste, wie vom Totenbett, wie von Dritten arrangiert. Ich frage mich, was sie so auf dem Weg zu einer Freundin alles mitschleppt, außer Taschentücher, Geld, Kamm und Schirm. Auch meine Mutter trug grundsätzlich einen Schirm mit sich, selbst bei unverdächtigstem Sonnenschein und guten Prognosen. Die Angst um die Frisur ist für diese Generation von Frauen so typisch wie unverhältnismäßig. Derangiert aussehen! Das Wilde ins Bild setzen – niemals. Meine Mutter kommentiert eine ungepflegte Frisur stets mit der Bemerkung, die Trägerin ebendieser sähe aus, als ob sie sich gerade aus
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