Unter der Hand (German Edition)
Selbstverständlich weiß ich, dass man Erbe bleibt, gleichgültig, wie man entscheidet. Man erbt die Neigung zum Erröten genauso wie die sommersprossige Haut und den hohen Haaransatz. Man erbt den Gang und die Art zu kauen, man erbt die Verstocktheit und die Schwermut. Man erbt den verstörten Blick und die vergiftete Luft, die eingeatmet wurde. So gesehen kann man natürlich die Frühgeburt als Startvorteil sehen, insofern als die Leibeigenschaft im mütterlichen Körper volle zwei Monate weniger währte.
Dann sitze ich Lotte gegenüber im erfreulich hell ausgeleuchteten Museumscafé, durch dessen Scheiben das teure Münchner Licht bricht, und bin gerührt von der Unsicherheit in ihrem zerfurchten Gesicht, ihrem unsteten Blick, der meinen sucht und meidet, ihrem sorgfältig frisierten Haar und den weichen Armen, die der halbärmelige Pullover freigibt. Die junge Bedienung mit gepierctem Nasenflügel empfiehlt Zwetschgendatschi, und Lotte stimmt freudig zu. Sie erzählt – nach einem Blick auf den steinernen Boden der Villa Stuck – von dem schwarz-weißen Fliesenboden in der Küche des Hauses ihrer Kindheit, dessen Erdgeschoss die Schulräume beherbergten, während die Lehrerfamilie, also ihre, im darüber liegenden Stockwerk wohnte. Zu Lottes Aufgaben gehörte die Reinigung der Fliesenzwischenräume, auf Knien, mit einem kleinen Bürstchen die Ritzen schrubben, bis der Arm erlahmte und der Rücken schmerzte. Sie ahmt die Bewegung nach und fährt heftig über die Tischfläche, fast fliegt der Kuchenteller, der gerade abgesetzt wird, in hohem Bogen hinunter, ich erreiche ihn gerade noch und schiebe ihn zu ihr zurück.
Ach, du grieses Kätzchen
, sagt Lotte und lächelt mich an,
vor lauter, lauter
.
Diesen Satz und
Jeckerl noch mal
, ein Ausruf des Verdrusses oder ein Vademecum für alle Fälle – keine Ahnung, was genau er bedeutet und wie sich
jeckerl
schreibt – höre ich in den nächsten Wochen häufig von ihr. Wir gehen gemeinsam spazieren, essen, Kaffee trinken, wir sitzen auf ihrer Terrasse oder in ihrer Küche unter den Holztrophäen, ein einziges Mal im Wohnzimmer, weil sie mit mir eine Sendung – eine Verbraucherberatung – ansehen möchte. Darin geht es um Anschaffungen, die keine von uns beiden plant. Noch sich leisten könnte. Währenddessen scanne ich den Raum: Zinnbecher auf der Anrichte, eine Sammlung mit goldenen Münzen in einer großen Schatulle unter Glas wie aufgebahrt, eine digitale Wetterstation auf der Fensterbank, an der Wand ein Barometer. So viel Auskunft über die Atmosphäre steht im groben Missverhältnis zur Geringfügigkeit des Einflusses darauf. Jeden Morgen geht Lotte zum Thermometer, das an der Terrassentür hängt, und kontrolliert den ordnungsgemäßen Auftakt des bevorstehenden Tages. Fest von der Autorität ihres prüfenden Blicks überzeugt.
Über meinem Sitzplatz hängt an einem schmiedeeisernen Haken ein bemaltes Straußenei. Ich fühle mich bedroht.
Jeckerl noch mal!
, ruft Lotte aus, als der Moderator mit sorgenvoller Miene über besonders üble Praktiken des Nepps und Betrugs berichtet, damit ist alles gesagt, und sie wendet sich mir zu, nimmt das Straußenei ins Visier: Das hat mir mein Bruder mitgebracht, er ging gleich nach dem Krieg nach Südwestafrika.
Ich unterdrücke den Reiz, zu tadeln:
Heute Namibia, Lotte
. Und ich habe umgehend ein Fotoalbum auf den Knien liegen. Manchmal ist die alte Frau trotz ihres Beins ziemlich schnell.
Der Bruder Helmut ist zu sehen, in Knickerbockern, ein Karakullamm um die Schultern gelegt, als sei es bereits der spätere Persianerpelz. Er lacht keck, ein merkwürdiger Hut sitzt schräg auf seinem Kopf und verleiht ihm das Aussehen eines Abenteurers. Auf den folgenden Seiten sieht man ihn mit erlegten Großkatzen, zu Pferd und schließlich mit Frau. Zwei Seiten später mit dem ersten Kind. Die Frau ist einen Kopf größer, hager und mit Augenbrauen wie Zensurbalken etwas düster anzuschauen. Lotte erklärt, dass es sich bei ihr um eine Farmerstochter handelt, die dort geboren und aufgewachsen ist, und ihren Mann – also Lottes Bruder –, der nach dem Krieg als Flüchtling auf der schwiegerväterlichen Farm anheuerte, aus einer gerade überstandenen Liebesenttäuschung heraus geheiratet habe. Für seine Bereitschaft, zweitklassig zu sein, habe sie ihn immer verachtet. Helmut wurde mit sechzehn eingezogen, Schulbildung so gut wie keine, nach dem Krieg nur weg! Weit weg! Die Flachmänner am rechten Fleck, in der kaum
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